Akt II. - Durch einen Tunnel in den Schornstein

188 28 6
                                    

Ziellos stromerte der Jugendliche durch die Häuserschluchten. Viele der Gebäude waren vollkommen heruntergekommen. Die meisten der Bewohner waren geflohen, als die ersten Bomben gefallen waren, hatten sich aufs Land zurückgezogen in der Hoffnung, dort ein sichereres Leben zu haben, solange der Krieg währte.

Justus' Familie wäre sicher auch gegangen, wenn sie gewusst hätte, wohin. Doch weder die Mutter noch der Vater hatten Bekannte oder Verwandte auf dem Land und so waren sie geblieben. Dem Jungen hätte es gefallen, auf einem Dorf zu leben und Schweine oder Hühner zu hüten. Wann immer er Kinder vom Land zu Gesicht bekam, erhärtete sich in ihm der Glaube, dass die weniger unter Rationalisierungen zu leiden hatten und selten hungrig zu Bett gingen. Denn die waren alle mindestens zehn Pfund schwerer und mehrere Nuancen gebräunter als Justus, der hochgewachsen und mager war.

In Gedanken versunken betrat der Jugendliche einen Ort, den er schon als Kind gemocht hatte. Es war ein Spielplatz, an dem man angrenzend begonnen hatte, ein Gebäude zu errichten. Doch das war vor dem Krieg gewesen und das Haus niemals fertig geworden. Jetzt standen nur die nackten, skelettartigen Grundmauern und es erschien so, als hätte man am Tag des Kriegsbeginns alles stehen und liegen lassen. Vermutlich hatte der Großteil der jungen Männer, die hier gearbeitet hatten, an die Front gemusst und war inzwischen tot.

Der Junge ließ sich auf einer der Schaukeln nieder und schwang ein paar Mal hin und her, als ein flackerndes Licht seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er drehte den Kopf und konnte sehen, dass irgendwo auf einem der angrenzenden Dächer etwas in der Sonne funkelte und seine Reflexion auf die Bauruine warf. Justus wollte sich wieder auf sein Spiel konzentrieren, doch das wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder warf er den Blick auf die Stelle, wo der helle Lichtpunkt tanzte und stand schließlich auf.

»Nanu«, murmelte er, als er dort angekommen war. Das Funkeln war verschwunden und als er den Kopf zu dem Dach herumdrehte, war da nichts mehr, was schillerte, obwohl noch immer die kalte, blasse Sonne schien. Wollte ihn da jemand veralbern?

Der Junge stand vor einem dieser breiten Betonrohre, die man manchmal aufgestapelt auf Baustellen vorfand, nur war dieses in den sandigen Grund getrieben worden. Was hatte man denn hier errichten wollen? Das Rohr war groß genug, dass Justus geduckt darin stehen konnte. Die Neugier hatte ihn gepackt und er fing zu grinsen an.

Ohne längeres Zögern krabbelte der Junge hinein und folgte diesem. Er glaubte, dass es ohnehin nicht wirklich tief hinunter gehen konnte, und rasch am Ende anzukommen. Es wurde immer dunkler und auch kühler. Der vom Winter durchgefrorene Boden gab seine Eiseskälte an den Stein ab.

Für einen Augenblick gaukelte Justus' Fantasie ihm ein Horrorszenario vor, was er am Grund finden würde. Vielleicht hatte ein Mörder sein Opfer in ihrem Schacht versteckt oder er landete in einem Nest von Ratten. Der Jugendliche wusste nicht, was er schlimmer finden würde.

Er tastete sich mit den Händen an den rauen Wänden vorwärts, denn sehen konnte er kaum noch etwas. Als er zurückblickte, war der Eingang des Tunnels als ein kleiner Lichtpunkt weit oben zu erkennen. Wie konnte das sein? Wie konnte er so weit gegangen sein und noch nicht am Ende angelangt sein? Justus tastete seine Jacke ab, in der Hoffnung, die kleine Taschenlampe darin zu finden, die er normalerweise immer dabei hatte, doch die seine Mutter gern herausnahm, damit er nicht so viel Plunder mit sich herumtrug.

Der Junge fand die Handleuchte und schaltete sie ein. Neugierig leuchtete er die Wände ab, die ihm unter seinen Fingern immer rauer vorgekommen waren und nun sah er auch, warum das so war. Der Beton war übersät mit funkelndem Mineral und Kristallen, doch das war kein Salz. Es sah aus, als wären es Edelsteine.

»Wie geht das denn?«, flüsterte er sich selbst zu, als er den Lichtstrahl geradeaus richtete. Dort hinten war etwas. Es sollte dunkel, stockfinster sein, doch das war es nicht. Es schien, als leuchtete vor Justus etwas. Entschlossen kroch er geduckt weiter, bis er das Ende des Tunnels erreicht hatte. Irritiert blickte er auf das Gebilde vor sich. Es wirkte wie eine Tür. Eine mit einem kleinen, etwas schmutzblinden Fenster.

Justus & IllianWo Geschichten leben. Entdecke jetzt