Akt V. - In den Düsterlanden

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Wie durch einen langen und dunklen Tunnel zu gehen, kam es Justus vor, als er allmählich das Bewusstsein wiedererlangte. Was war geschehen?

Ah, ja richtig. Der Fliegeralarm. Justus hatte Schutz gesucht und dann ... war da ein dunkles Nichts. Die betäubten Sinne des Jungen versuchten zu erfassen, was um ihn herum geschah, doch hören konnte er nichts. Das Jaulen der Sirenen und das Fauchen der unerbittlichen Flammen war verklungen, kein Rufen lag in der Luft und auch nicht das furchterregende Bersten von Beton und Ziegelwänden. Die durch Mark und Bein gehende Winterkälte war verschwunden und selbst die Furcht, die ihn geschüttelt hatte, war nicht mehr zu spüren.

Wie ein Stromschlag durchfuhr es Justus und mit einem unterdrückten Schrei schnellte er aus seiner Position in die Höhe, zuckte heftig und riss die Augen auf.

»Es ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit«, hörte er eine leise Stimme neben sich. Nur langsam konnte der Jugendliche sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnen.

Es war Tag und die Sonne schien? Justus rieb sich die Lider und immer deutlicher konnte er die Dinge um sich herum wahrnehmen. Der Duft einer Blumenwiese umgab ihn, ebenso das feine und idyllische Summen von Bienen.

Nachdem er mühsam die Tränen aus seinen geblendeten Augen geblinzelt hatte, hob er den Kopf und drehte diesen in Richtung der Stimme, die ihn angesprochen hatte.

Illian saß neben ihm im Gras, die Sonne ließ seine Haut beinahe weiß wirken und sein Mantel wirkte zu düster für das schöne Wetter.

»Was ist passiert?«

Der seltsame Junge lächelte leicht und bei Tag sah er nicht halb so unheimlich aus wie bei Nacht. Seine Augen waren braun, Justus konnte es in seinem Profil erkennen. Rot wurden sie wohl nur, wenn das Mondlicht hineinfiel.

»Das ist immer das Erste, was sie fragen, wenn sie hier aufwachen ...«, murmelte Illian und wandte seinem Gegenüber das Gesicht zu. »Kannst du dich wirklich nicht erinnern?«

Justus biss sich auf die Lippen und erzählte dem Anderen, was er noch wusste.

»Die Bomben sind gefallen«, bestätigte der merkwürdige Junge und der Ausdruck seiner Augen zeigte echtes Bedauern. »Viele sind angekommen heute ...«

»Was ist das hier für ein Ort?«

»Einer, an dem du vor einigen Tagen noch nicht willkommen warst. Doch nun bist du es.« Illian griff in seine Manteltasche und zog Justus' Taschenlampe hervor, die er einen Moment in seinen Fingern drehte, bevor er sie ihm überreichte. Dabei bemerkte er nicht, dass ein kleiner Spiegel mit herausgerutscht und funkelnd im Gras liegen geblieben war.

Justus, der kurz davon geblendet wurde, griff danach und blickte hinein. Illian wollte ihm den Gegenstand aus der Hand nehmen, doch der Jugendliche hatte bereits gemerkt, dass die glatte Oberfläche nicht sein Gesicht zurückwarf, sondern wie ein Fenster etwas anderes zeigte.

Feuer, Angst, Zerstörung, genug Hass, um eine ganze Welt zu zerstören. Der Spiegel zeigte Justus' Stadt und alles, was darin in der Nacht geschehen war. Schwallartig kehrte die ganze Erinnerung zurück und auch der kurze, durchdringende Moment des Schmerzes, den der Junge gespürt hatte, als er gegen die Mauer geschlagen war, die ihm das Rückgrat gebrochen hatte. Er konnte sich selbst sehen, wie er da lag, inmitten von Schutt, Asche und von Rauch schwarz gewordenem Schnee.

»Ich bin gestorben, oder?«, flüsterte er und reichte Illian seinen Spiegel zurück.

»Ja.«

»Warum bin ich wieder hier? Ist das der Himmel?«

Der seltsame Junge neigte leicht den Kopf. Durch sein dunkles Haar lugten die Spitzen seiner Ohren hervor. Er war wirklich kein normaler Junge.

»Nein. Und ja. Es ist das, was es sein soll. Das Jenseits. Doch du bist wieder hier auf der Fledermausheide, weil du bei deinem letzten Besuch einen Abdruck hinterlassen hast.«

Justus zog leicht die Stirn kraus. »Wie?«

»Deine Taschenlampe. Du hast sie hier verloren. Normalerweise landen Neuankömmlinge nicht bei mir, sie verirren sich oft nicht einmal hierhin, aber das Ding scheint dir wichtig zu sein. Deswegen bist du halt hier aufgewacht. Sie hat dich hergeführt, wie ein Leuchtfeuer.«

Abschätzend hob Justus den Kopf und schloss einen Moment die Augen, als der warme Wind über sein Gesicht strich, sanft wie die Umarmung einer Mutter. Er war also tot. Doch irgendwie konnte er es nicht bedauern. Wer würde nicht Krieg, Kummer und Angst gegen diesen wundervollen Flecken Erde eintauschen wollen?

»Und was wird nun aus mir?«

Illian lächelte. »Alles, was du willst.«

»Zeigt dir dein Spiegel auch, was mit meiner Familie passiert ist? Meinen Eltern?«

Erneut nickte der seltsame Junge. »Sie gehören zu den anderen Ankömmlingen.« Er sagte es leise, mitfühlend und machte es gerade richtig so, denn Justus keuchte leise und schniefte anschließend. Sicher hätte er es lieber gehört, dass seine Mutter und sein Vater den Angriff überlebt haben.

»Sie sind hier?«

»Ja. Aber weit entfernt.«

Justus wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht, erhob sich und drehte sich dann mit einem Lächeln zu Illian um, der noch immer im Gras saß wie eine zu groß geratene Fledermaus. »Na, dann werde ich sie eben suchen. Wenn ich jetzt eins habe, dann ist es doch Zeit. Oder habe ich das falsch verstanden? Gibt es irgendwelche Regeln, die mich aufhalten könnten?«

Illian stand auf und grinste sein Gegenüber an, es wirkte spitzbübisch und lausbubenhaft, ganz ohne unverschämt zu sein. »Nichts, was du nicht lernen kannst, wenn du erlaubst, dass ich dich begleite. Ich hänge schon seit Ewigkeiten auf dieser Wiese fest. Also, was sagst du?«

Das Grinsen erwidernd packte Justus Illians ausgestreckte Hand und wieder durchflutete ihn das Gefühl, das der Andere dieses Mal auch zu spüren schien.

»Ich glaube, irgendwas will, dass wir wissen, dass wir zusammen gehen sollten. Also, lass' uns Freunde sein!«

Der seltsame Junge lächelte zum ersten Mal, seitdem Justus ihn kannte, wirklich und nickte. Sein blasses Gesicht rötete sich leicht. Er saß schon so lange auf dieser Wiese und bewachte die Fledermäuse, dass er ganz vergessen hatte, wie es war, einfach zu leben und einen Kameraden zu haben.

»Ja, lass' uns Freunde sein.«

~ ~ ENDE ~ ~

Justus & IllianWo Geschichten leben. Entdecke jetzt