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Heute

"Um Gottes Willen, Nathan!"
Meine Muskeln versteiften sich, als mich das strenge Brüllen meines Vaters aus dem Schlaf riss. Genau genommen war es kaum Schlaf, sondern eher ein benebelnder Tagtraum gewesen. Wie benommen hatte ich die vorbeiziehenden Autos angestarrt und jeden weiteren Gedanken an längst verdrängte Erinnerungen verschwendet, weshalb ich mit den Händen über meine müden Augen rieb, um mich selbst etwas zu wecken. Es nutzte nichts in diesem Teil meiner Vergangenheit zu schwelgen, ich musste lernen alles hinter mir zu lassen. Es wirkte beinahe so, als wären wir nur nach Frankreich gereist, um die Erinnerungen an unsere Mutter dort abzulegen und jetzt ohne sie wieder nach Hause zurückzukehren.
"Ein Lenkrad ist kein Kinderspielzeug! Grund gütiger... Ich wusste, das würde nicht gut ausgehen." Unser Vater warf verzweifelt den Kopf gegen die Stütze des Autositzes und war gerade dabei sich selbst davon abzuhalten Nate ins Lenkrad zu greifen.
Da mein Bruder vor einigen Monaten mit seinem Fahrtraining begonnen hatte, wollte er beinahe immer und überall Taxifahrer spielen. Nate war ohnehin nicht der hervorragendste Autofahrer, und nun auch noch Dad an seiner Seite kleben zu haben, der ihn mit prüfenden Blicken mehr oder weniger durchlöcherte, brachte das Fass für ihn beinahe zum Überlaufen. Die Beiden hier so gestresst gestikulieren zu sehen, während ich sie nur schweigend von der Rückbank aus beobachtete, sorgte meinerseits fast für ein Schmunzeln. Es sah aus, als wäre Nate nichts weiter als eine junge Version von Dad. Abgesehen von den vereinzelten grauen Haaren, die sich im dunklen Haarschopf unseres Vaters versteckten, hatten sie dieselbe Nase, die gleichen aufgewühlten, tiefblauen Augen und in manchen Momenten sogar eine Mimik, die so aussah, als würden sie sich gegenseitig imitieren.
Erfolglos versuchte ich ein Gähnen zu unterdrücken und zog dadurch ihre nun verstummten Gesichter auf mich, als sie realisierten, dass die Musik, die vorhin noch durch meine Kopfhörer gedrungen war, mich nicht mehr aus ihrer Konversation raushielt. Dad gab noch ein leises Räuspern von sich, bevor er irgendwas murmelte und seine Augen auf sein Smartphone senkte.

Sie wussten inzwischen, dass ich sie dafür verurteilte, wie sie sich ständig gegenseitig Sachen an den Kopf warfen. Wir drei hatten in den letzten Monaten ungewöhnlich viel Zeit miteinander verbracht. Zumindest für unsere Verhältnisse.
Für mich hatte das kein großes Problem dargestellt, da ich mich von Grund auf eher aus dieser Art von Familienstreitigkeiten zurückhielt, solange niemand von mir erwartete meine Meinung zu äußern.
Jedoch waren Dad und Nate in diesem Fall aus ein und demselben Holz geschnitzt, weswegen mein Bruder ebenfalls ein brodelndes Temperament und den unaufhaltsamen Drang im Recht zu sein, in sich trug. Irgendwo in mir waren diese Eigenschaften wohl auch aufzufinden, doch im Gegensatz zu Nate kannte ich meine Grenzen und wie viel die Menschen in meinem Umfeld ertragen konnten.
Ich begegnete Nates Blick, der mich durch den Rückspiegel für den Bruchteil einer Sekunde streifte.
"Wir sind doch fast da. Gleich hast du es geschafft", flüsterte ich seufzend und mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen.

Meine Aufmerksamkeit wandte sich wieder der Welt auf der anderen Seite der Fensterscheibe zu.
Ein aufgeregtes Prickeln durchfuhr meine Fingerspitzen, als wir ein großes Straßenschild mit der Aufschrift Wildwood High passierten.
Wir hatten es gerade noch einschieben können all unsere Pläne genauso durchzuführen, dass ich es schaffen konnte rechtzeitig wieder hier in New Jersey zu sein, bevor ich in weniger als drei Tagen wieder zurück an meine alte Schule gehen würde.
Ich wusste weder was auf mich zukommen würde, noch wie ich damit umgehen sollte. Was ich jedoch wusste war, dass ich immer noch meine beste Freundin hatte, die es anscheinend gar nicht abwarten konnte, mich mit ihrer Gegenwart zu stören. Und mir ging es genauso.

Maeve stellte die wildesten Vermutungen auf, was diese Reise mit mir gemacht haben könnte.
In einem Moment war sie der Meinung ich hätte bestimmt eine Art innere Ruhe gefunden und könnte dadurch nun alles erreichen, was ich mir demnächst noch vornehmen sollte. Im nächsten Moment wollte sie einfach nicht die Vorstellung aus ihrem Kopf bekommen, wie es wohl aussehen würde, wenn ich meine dunkelbraunen, langen Haare durch einen knallpinken Bob eingetauscht hätte.
Wenn etwas der Weg zur inneren Ruhe war, dann eine krasse Typveränderung hatte sie gesagt. Vielleicht stimmte das ja. Nur würde ich es mit großer Sicherheit niemals rausfinden.

Until We FallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt