*~I~*

11 1 0
                                    

„Merina! Nun warte doch bitte!"Keuchend rannte die junge Frau mit dem aschblonden Haar und der auffällig roten Strähne hinter ihrer Schwester her.
„Was willst du von mir, Lillith?" Arrogant wie eh und je drehte sich eine schwarzhaarige Schönheit abrupt um, sodass die Heraneilende urverwandt gegen sie stieß.
„Du dämlicher Tölpel!", schimpfte die groß gewachsene Frau, nur um sogleich wütend die rote Strähne der anderen Frau zu ergreifen und daran zu zerren wie in früheren Kindertagen. Lillith fragte sich bis zum heutigen Tage wieihre blinde Schwester stets die richtige Strähne erwischte, doch sobald der elektrisierende Schmerz beim Ziehen eintrat, hatte siekeine Chance mehr länger darüber zu grübeln, sondern brach unterwackligen Knien zusammen.
„Schwester, bitte lass los. Du weißt genau, dass ich sonst starke Schmerzen erleide.", jammerte Lillith,während sie versuchte sich aus dem Griff ihrer Schwester zubefreien. Diese lachte jedoch nur hämisch und näherte sich dem Gesicht der fast Weißhaarigen. „Du weißt nicht mal im Ansatz, wases heißt zu leiden, kleine süße Schwester. Du kannst das Lichtdieser Welt sehen, doch unseren Eltern und deinen Geschwistern wird dieses auf ewig vergönnt bleiben." Mit diesen Worten stieß Merinadie Jüngere angewidert von sich und stolzierte mit ihren hohenAbsätzen davon, so gekonnt wie es keine Frau mit Augenlicht je hätte tun können. Traurig blieb Lillith auf dem kalten Steinboden sitzen,kämmte sich vorsichtig mit den gepflegt langen Fingernägeln durchdas wellige Haar und richtete ihren Blick durch das glaslose Fenster,welches die Weite der Stadt und des Landes im Sonnenuntergang in einem Rahmen einfing. Dunkle Rauchschwaden zeichneten sich an manchenOrten ab, während anderswo noch die gierigen Zungen der Flammen überHäuserdächer oder Felder zuckten. Am Horizont wehten Fahnen deranderen Königsfamilien, sodass Lillith den wahren Frieden ersthinter den zwei Schneebedeckten Bergen vermutete, die die Grenzedieses Landes verzeichneten und zahllose Jahre der Kriegestandhielten, da bis jetzt noch kein Mensch der drei großen Reicheje hinter den Bergen hinab gestiegen war. 

„Du irrst dich,Merina. Ich wünschte, mir würde dieser grauenvolle Anblick Tag fürTag erspart bleiben.", sprach sie in die Stille und rappelte sichwenige Augenblicke später wieder auf.
„Redest du wieder mit dirselbst, du Freigeist?", riss eine vertraute Stimme Lillith aus denGedanken und zauberte ihr ein Lächeln auf den Lippen. Einstattlicher Mann mit dunkler Mähne lehnte an einer Säule undspielte mit einer Hand an dem Blindenstock herum, den er seit erdenken konnte mit sich herum trug. Mertyn, Zweitgeborener derKönigsfamilie war die Ruhe in Person und für Lillith stets einAnker in schwierigen Zeiten gewesen. Nichts brachte ihn aus derFassung, jedes Problem schien er zu bewältigen und keineÜberraschung brachte seine Position ins Wanken. Für Lillith war er die personifizierten Berge ihres Landes, unzerstörbar und stets imposant.
„Bruder, du weißt doch, ich rede allzu oft undnun mal gerne. Wenn ich keinen Gesprächspartner habe, muss hin undwieder auch mal mein eigenes Gehör in der Not ausreichen, um dieFlut der Wörter aus meinem Munde standzuhalten."
Lachendstreckte er der Schönheit eine Hand hin und wartete geduldig, bissie ihre zierlichen Hände hinein legte.
„Meine Ohren wartenstets nur darauf dem Klang deiner wunderschönen Stimme lauschen zudürfen." Mit einer Schamröte im Gesicht ließ Lillith dieseSchmeichelei über sich ergehen und viel ihrem Bruder schließlich indie Arme. „Müssen wir wirklich heute erneut mit Mutter und Vaterspeisen?", murmelte sie in seine Tunika, wobei sie die Augen festvor der Wahrheit verschloss.
„Nun, sollte ich eines Tages Königsein, dann sei dir gewiss werden wir jeden Tag zusammenspeisen."
„Aber?", hakte sie kichernd nach.
„Abernatürlich auf einem riesigen Sofa, während wir uns ein lustigesTheaterstück ansehen und in einem Meer aus Kissenversinken."
„Während Merina und die anderen in ihren Büchern,Stickereien oder anderem unwichtigen Zeug versunken sind.",entgegnete Lillith feixend, wobei Mertyn ihr mit tiefem Lachenzustimmte. Sie liebte es, wenn sie so urverwandt miteinander scherzenund reden konnten, ohne dabei zu beachten, dass Mertyn, Merina odersonst einer ihrer Geschwister niemals je den Thron besteigen würden.Es gab nur eine einzige Person, die dieses Privileg in naher Zukunfthaben würde und das einzig, weil sie die Erste ihres Blutes war, diedas Augenlicht besaß. Eines Tages würde Lillith die Königin diesesReiches sein und nicht Mertyn würde die Speisen arrangieren, sondernganz allein sie würde bestimmen, was ihre Geschwister zu tun oder zulassen hatten. Mertyn hatte mit dieser Erkenntnis bereits am Tageihrer Geburt leben können, doch die restlichen Königskinder hattenselbst dreiundzwanzig Jahre nach dem Ereignis ihr Schicksal nichtakzeptieren können. Merina, die Erstgeborene glaubte daran einHeilmittel der Blindheit zu finden und verzog sich tagtäglich inihre Forschungszimmer, während der Drittgeborene Michael auf demSchlachtfeld seine Wut verarbeitete, der fünft geborene Melchior imzarten Alter mit neun Jahren sich das Leben nahm, indem er die Felsenauf der anderen Seite der Burgmauern hinab sprang, Martheus alssechster der Geschwister die Sprachen der Welt erlernte, umschnellstmöglich diese bereisen zu können und Margarethe alsJüngste im Bunde nicht nur unter dem fehlenden Sehvermögen, sondernauch durch ihre gefühllosen Beine litt. Jeder in diesem Land glaubtejedoch, dass Lillith von den Göttern gesegnet mit Glück, Gesundheitund Schönheit sei, doch besser als alle anderen wusste sie, dassihre Schmerzen noch tief verborgen lagen und bereits auf sie lauerten.

Blind- Three KingdomsWhere stories live. Discover now