*~II~*

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Lillith klammerte sich an den Arm ihres älteren Bruder, während sie gemeinsam in den großen Speisesaal schritten und sich alle Köpfe sichtlich neugierig in ihre Richtung reckten. In Kindertagen fragte sich Lillith stets warum ausgerechnet ihre Familie, schwach und gezeichnet von einem Fluch alter Götter, viele Ewigkeiten an der Macht war und vom Volk nie gestürzt wurde. Stets gehorchten die Diener, allzeit erbrachte das Volk Opfergaben für ihre Herrscher und unaufhörlich kämpfte die Armee an der Seite dieser blinden Menschen. Viele Jahre später, als sie endlich im Alter war die alten Aufzeichnungen, sowie Geschichten ihrer Ahnen lesen zu dürfen, erhielt Lillith ihre Antwort. An jedem Tag, den sie den Saal betrat, erkannte sie es, wenn ihr Blick über die ansehnliche Tafel schweifte. Am Kopf des Tisches thronte ein mächtiger Stuhl, verziert mit goldenen und verchromten Ornamenten, der einst von ihrem Vater genutzt wurde und seit geraumer Zeit nun für sie bestimmt war. Links und Rechts von diesem ehrfürchtigen Platz saßen Mutter und Vater. Seit Geburt erblindet und doch mit einer Aura voller Stolz, Kraft und Magie rührten sich die zwei jetzigen Herrscher keinen Zentimeter, aber konnten einzig mit ihren Atemzügen die Temperatur, die Gefühle, gar den Sauerstoff im Saal kontrollieren. Vor ihr reite sich keine kümmerliche und gefesselte Familie auf, sondern Kreaturen, die einst für ihre Taten bestraft wurden und denen das genommen wurde, dass sie unsterblich machte...ihre Augen.
„Meine Kinder, es freut mich, dass wir heute wieder gemeinsam speisen.", erhob der König seine Stimme, nachdem sich Lillith auf den imposanten Stuhl niedergelassen hatte. Ihre Mutter suchte gierig nach der Hand ihrer Tochter und drückte sie so fest, dass Lillith vor Schmerzen aufkeuchen musste. Die Königin liebte ihre Drittgeborene nicht, das wusste Lillith seit dem Tag, an dem ihre Mutter sie zu sich riefen ließ, um sie unter Tränen darum zu bitten ihr mit ihren magischen Kräften das Augenlicht zu schenken. Damals wie heute stand diese Art von Macht Lillith nicht zu, weshalb sie den Wunsch der Königin nicht umsetzen konnte und zur Strafe von dieser drei Tage ohne Essen oder Trinken in einem kalten Verlies eingesperrt wurde. Zu jener Zeit verlor diese Mutter die Liebe ihrer Tochter, doch das hielt sie nicht davon ab ihr Kind tagtäglich emotional zu erpressen und besessen von der Vorstellung zu sein, Lillith könne den Frieden für ihre Familie bringen. Betrübt über die Gedanken an die Vergangenheit entriss die junge Frau ihre Hand der Königin und richtete ebenfalls das Wort an ihre Geschwister.
„Lasst uns für den Segen danken, das wir alle hier beisammen sitzen dürfen und Speise wie Trank genießen können."
Schnaufend ergriff Marina den Kelch voll Wein vor ihr, hob ihn in die Luft und zischte genervt: „Möge unsere zukünftige Königin gedeihen und unserem Land die Stärke geben, um Herr aller drei Reiche zu werden. Das ist es doch, was du dir wünschst, nicht wahr Schwesterchen?" Marinas Gesichts wandte sich zu Lillith, das Weiß ihrer Iris und Pupillen raubte der Aschblonden Frau für einen kurzen Moment den Atem und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, so hätte sie glauben können, ihre Schwester würde direkt durch sie hindurch sehen.


„Auf unser Reich.", durchbrach der König die kurzzeitige Stille, dann stimmten alle anderen mit ein. Die Dienerschaft tischte das beste Essen seit Langem auf, doch die Thronfolgerin beließ es dabei ihren Geschwistern beim Essen zuzusehen und das schöne glänzende Haar jedes einzelnen zu betrachten. Da niemand außer das Personal bemerkte, dass sie weder Trinken noch Essen zu sich nahm, konnte sie getrost mit der Ausrede keinen Hunger mehr auf den Nachtisch zu haben, den Saal verlassen. Ihre stolpernden Schritte hallten von den Steinen wider, während sie die Stufen zu ihrem Turm erklimmte und immer wieder durch die Fenster einen Blick auf die Berge warf. Der Wind wurde mit jeder Stufe kälter, doch diese Kälte war nichts im Vergleich zu der fehlenden Liebe ihrer Familie. Die Einsamkeit in diesem Turm war alle Mal erträglicher, als die abweisenden Worte ihrer Geschwister, sodass sie freiwillig diesen Ort für sich wählte. Hier konnte sie das sein, was sie von Geburt an war. Lillith. Lillith mit dem aschblonden Haar und der roten Strähne. Lillith, deren Augen so grün wie Smaragde waren. Lillith, die die Befreierin der Reiche sein sollte, doch nur die Frau war, die fast vor Angst zerbrach.

Blind- Three KingdomsWhere stories live. Discover now