Kapitel 3

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Vergangenheit

3 Jahre, bevor die Dunkelheit mein Leben bestimmte

Ich bin geschockt als ich in das Gesicht gucke, welches mir Gegenüber steht. Dunkle Augenringe umranden glasige Augen, verwischte Wimperntusche ist über das halbe Gesicht verteilt, die Wangen sind eingefallen und die braunen Haare stehen in alle Richtungen ab. Ich taumle ein paar Schritte rückwärts, mein Spiegelbild tut es mir gleich. In meinem Hals bildet ein schwerer Klumpen, welcher mir das Schlucken erschwert. Die letzte Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Verzweifelt versuche ich, die Wimperdusche abzuwaschen und die Augenringe zu überschminken. Dann ziehe ich das verschwitze, weiße T-Shirt aus, welches von schwarzen Wimperntuscheflecken übersäht, ist. Anschließend wechsle ich den inzwischen rot verfärbten Verband, welchen ich in der vergangenen Nacht um meinen Unterarm gebunden habe. Erst jetzt wird mir bewusst, wie tief die Schnitte tatsächlich gewesen sein müssen. Ich ertrage den Anblick meiner Schwäche nicht länger und fische einen schwarzen Hoodie aus meinem Schrank.

„Amelie, ist alles okay?" Frau Carus, meine Englischlehrerin lächelt mich an. Ich will ihr sagen, dass nichts, absolut nichts, okay ist. Ich zerbreche innerlich. Jeder Tag, an dem ich weiter so tue als wäre alles okay, tut mehr weh als jede Verletzung, die ich mir jemals zufügen könnte. Und, ohne drüber nachzudenken, schüttle ich den Kopf. Der Blick meiner Lehrerin ist so aufrichtig, dass ich weggucken muss. „Möchtest du drüber reden?" fragt sie und wieder reagiere ich instinktiv – und nicke.

Seit Jahren schon habe ich gerne Gedichte geschrieben, doch ich habe sie nie jemandem gezeigt. Vermutlich, weil sie einfach nie gut genug waren. Doch aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht verstehe, will sie sie Frau Carus zeigen. Ich will, dass sie versteht, was in mir vorgeht, dass die meine Gedanken versteht. Also habe ich sie ihr gezeigt. Ich habe mir viele mögliche Reaktionen ausgemalt. Aber damit habe ich nicht gerechnet. Nein, das kam unerwartet. Frau Carus hat nichts gesagt, kein Wort. Sie hat mich einfach in den Arm genommen. Zuerst war es mir unangenehm. Ich fühlte mich eingeengt und überfordert. Ich stand einige Augenblicke regungslos da, bis ich realisierte, wie sehr ich es gerade brauche. Jemanden, der mir zeigt, dass ich nicht allen egal bin. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann mich das letzte mal jemand so ehrlich umarmt hat. Nicht zur Begrüßung oder zum Abschied, sondern eine ehrliche Umarmung. Die Umarmung kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, dabei sind es nur wenige Sekunden.

„Magst du mir deine Arme zeigen?" Nein. Nein, will ich nicht. Die Wunden und Narben sind nichts worauf ich Stolz bin. Nein, sie sind wie Risse in meiner perfekt sitzenden Maske. Sie bedeuten Schwäche. Angst. Verzweiflung. „Es ist okay." Sagt sie mit beruhigender Stimme. Ich atme tief durch. Atme ein, atme aus. Langsam schiebe ich den Ärmel meines Hoodies hoch und der inzwischen rot gefleckte Verband kommt zum Vorschein. Einer der Schnitte muss wieder angefangen haben zu bluten. Vorsichtig löse ich den Stoff von meiner Haut. Er klebt leicht an den Wunden, reißt einige wieder auf. Frau Carus Gesicht spiegelt Entsetzen wider. „Oh." Das Schweigen, welches den Raum füllt, ist unangenehm. Ich bin froh, als die Schulklingel es durchbricht. „Ich denke, ich sollte gehen. Mathe und so." nuschle ich. „Amelie? Ich kann nicht sagen, dass ich das da-" sie deutet auf meinen Arm, welchen ich wieder bandagiere „verstehe, aber ich bin für dich da. Du bist ein toller Mensch, hübsch und intelligent. Lass mich dir helfen." Auch wenn ich keins ihrer Worte glauben kann danke ich ihr und verspreche ihr, mich zu melden, auch wenn ich es eigentlich nicht vorhabe. Ich will mein Versprechen nicht brechen, aber mein Wort ist sowieso nichts mehr wert. Jeder zweiter meiner Sätze ist eine Lüge. Ich will nicht lügen, aber noch weniger will ich zugeben, wie scheiße es mir geht. Abgesehen von Em habe ich niemanden mehr. Hanna redet nicht mehr mit mir, wenn es nicht unbedingt sein muss und für den Rest meiner Schule scheine ich unsichtbar zu sein. Niemanden interessiert es was ich sage oder denke. Ich bin unwichtig, bin zerbrochen. Und ich weiß nicht, wie ich weiterkämpfen soll, weiß nicht, ob ich den Druck weiter aushalte. 

When you changeWhere stories live. Discover now