Tears in Heaven - Eric Clapton

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Ich bin Sam und habe meinen Verlobten verloren. Er hiess Jonas. Wir waren zehn Jahre zusammen. Morgen würden wir heiraten. Vor genau einem halben Jahr starb er. Krebs. Er wusste es nicht. Er schlummerte ruhig neben mir, erwachte nie wieder.

Ich war heute das letzte Mal arbeiten. Warum ich das weiss? Ich werde morgen zu Jonas gehen. Ich werde ihn endlich wiedersehen. Ich freue mich!

Ich wache gerade das letzte Mal auf. Es ist der letzte Samstag, den ich hier erleben werde.

Ich esse das letzte Mal Joghurt. Ich ass am liebsten Erdbeerjoghurt. Ich esse den letzten Erdbeerjoghurt auf der Erde.

Ich ziehe mich das letzte Mal an. Ich ziehe mein Hochzeitskleid an. Heute würden wir schliesslich heiraten. Wir. 

Ich mache mich das letzte Mal hübsch. Ich stecke mir die Haare hoch. Dieselbe Frisur, die ich vor dem Altar getragen hätte. Hätte. 

Ich schreibe meiner besten Freundin das letzte Mal eine Nachricht. Tschüss.

Ich nehme das letzte Mal einen Stift und Papier in die Hände. 

Ich schreibe das letzte Mal. Es ist mein Abschiedsbrief. Ich schreibe ihn an alle mir wichtigen Personen. Der Wichtigsten kann ich ihn nicht schreiben. Die Wichtigste werde ich bald sehen.

Ich packe das letzte Mal meine Handtasche. Es ist meine Lieblingstasche. In der Tasche befinden sich die Briefe, sowie Kaugummis, mein Portemonnaie, mein Handy, ein Päckchen Taschentücher, ein Stift, ein Notizblock, ein Medikament gegen Kopfschmerzen, eine Binde, meine Sonnenbrille.

Ich ziehe mir das letzte Mal Schuhe an. Es sind die Schuhe, welche ich vor dem Altar anziehen würde. Würde.

Ich mache das letzte Mal einen Rundgang durch die Wohnung. Unsere Wohnung. Ich sehe nach den Zimmerpflanzen. Ich habe sie gestern gegossen. Das letzte Mal. Die Wäsche ist fein säuberlich verstaut. Das habe ich am Donnerstag gemacht. Die getragene Wäsche befindet sich auf meinem Kleiderstuhl. Ich falte sie noch einmal. Es soll ordentlich aussehen. Ich streiche ein letztes Mal über mein Klavier. Gestern habe ich das letzte Mal darauf gespielt. Es war schön. Meine Lieblingsmusik habe ich übrigens gestern das letzte Mal gehört. Nachdem ich Klavier spielte. Ich schaue mir das letzte Mal die Fotos an. Die Fotos, die ich in meinem Leben gesammelt habe. Es sind viele. Die schönsten habe ich hier aufgehängt. Ich freue mich, wenn meine Freunde und Freundinnen, meine Familie auch von hier gehen. Wenn sie auch zu uns kommen. Dann können wir die Hochzeit nachholen. Mein Rundgang ist nun beendet. 

Ich schliesse meine Wohnung das letzte Mal ab. Mit meinem Schlüssel, an dem ein Schlüsselanhänger ist, welchen ich von meiner besten Freundin geschenkt bekam. Vor zehn Jahren.

Ich gehe das letzte Mal die Treppe hinunter. 

Ich schaue zum letzten Mal zum Fenster im ersten Stock hinaus.

Ich verschliesse die Tür zum letzten Mal.

Ich laufe das letzte Mal zum Wald. Zum Bach. Zur Brücke. Zu unserem Lieblingsplatz. Unserem Lieblingsplatz.

Ich atme das letzte Mal die würzige Waldluft ein. Ich schaue das letzte Mal von der Brücke in den Bach hinunter. Als Kind träumte ich immer davon, mit dem Wasser den Bach entlang ins weite Meer hinaus zu schwimmen. Zusammen mit dem Wasser. Nun werde ich genau dies tun.

Ich frage mich, ob du meinen Namen noch kennen wirst? Wirst du immer noch derselbe sein, dort oben? Wird es immer noch dasselbe sein mit dir? Wirst du meine Hand halten, wie du's zu Beginn unserer Beziehung immer tatest? Wirst du mir helfen, zu stehen?

Ich springe. Es fühlt sich befreiend an. Ich schwebe. Ich schwebe zu dir, in den Himmel. Ich bin auf dem direkten Weg zu dir. Nur noch eine Türe trennt uns. Ich weiss, hinter diesen Tür herrscht Frieden. Ich schaue nicht zurück. Hinter mir herrscht Krieg und Trauer. Aber hier im Himmel, hinter diesen Tür, werden keine Tränen vergossen. Im Himmel gibt es keine Tränen. 

Ich greife nach dem Türgriff. Langsam drücke ich ihn hinunter. Doch die Tür bleibt verschlossen. Sie bleibt verschlossen. Sie ist verschlossen und ich weiss, dass ich noch nicht hierher gehöre. Ich gehöre noch nicht in den Himmel. 

Unter der Tür lugt ein Zettel hervor. Ich hebe ihn auf.

'Bleib stark und halte durch, Sam. Du schaffst das. Du gehörst noch nicht hierher. Bleib bei unseren Freunden, bei unserer Familie. In Liebe, Jonas'

Ich kehre der Tür den Rücken zu. Ich gehe wieder zurück. Ich muss stark bleiben und durchhalten. Ich bleibe stark und halte durch. 

Ich werde meinen Weg finden, des Nachts und am Tage. Denn ich weiss, ich kann einfach nicht hier im Himmel bleiben. Ich kann nicht hier bleiben.

Und ich weiss, es werden jetzt gerade Tränen vergossen, im Himmel und auf Erden. Es werden Tränen vergossen. Tränen.

Ich mache meine Augen auf. Ich befinde mich in einem hellen Raum. Meine Mutter schaut mir ins Gesicht. Sie lacht. Sie weint. Ein Arzt und eine Krankenschwester kommen in mein Blickfeld. Sie lachen. 

Ich weiss, dass ich viel Zeit brauche, um wieder dahin zu kommen, wo ich vorher war. Wo ich vorher war. Viel Zeit. 

Die Zeit kann einen runterziehen. Sie kann einen in die Knie zwingen. Sie kann dir das Herz brechen. Dich zum Flehen bringen. Aber die Zeit kann Wunden heilen. 

Die Zeit heilt Wunden. Sie kann. Und irgendwann werde ich wirklich meine letzten Schritte tun, aber dies sollte nicht ich entscheiden. Irgendwann werde ich dich wiedersehen, aber jetzt sollte ich einfach mein Leben hier geniessen. Einfach geniessen.

What about dying?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt