Ich fliege. Ich fliege nicht mit dem Flugzeug, sondern einfach so. Es war schon immer mein grösster Traum, wie ein Vogel abheben zu können. Es war mein letzter Wunsch.
Ich war kaputt. Innerlich. Äusserlich. Nur kaputt. Schon seit fünf Jahren, als mein bester Freund starb. Mein bester Freund, der auch meine grosse Liebe war. Er wusste es nie. An dem Tag, als er starb, wollte ich es ihm sagen. Dummerweise kam mir ein LKW zuvor. Ja, er wurde einfach so überfahren. Einfach überfahren.
Jetzt aber fliege ich. Ich fliege in den Himmel empor. Der Wind peitscht mir ins Gesicht und für einen kurzen Moment sehe ich nichts. Regentropfen durchnässen mich. Ich blicke zurück.
Ich flog gerade durch eine Wolke. Kann das wahr sein? Das ist ja unglaublich! Hier ist ein Loch in der Wolke und ich kann auf die Erde sehen. Ich sehe mein Zuhause, ganz klein. Ich sehe die Stadt, in der ich wohnte. Die Häuser sind so klein, wie die Knethäuschen, welche wir als Kind immer gebastelt haben. Wir haben viel zusammen gespielt. Wir beide wuchsen als Nachbarn auf. Wir gingen zusammen in den Kindergarten. Wir waren zusammen in der Schule. Wir besuchten zusammen das Gymnasium. Wir zusammen. Schliesslich wurde er Professor für Mathematik. Was ich gemacht habe? Natürlich mit ihm zusammen Mathematik studiert. Ich unterrichtete jedoch nicht. Das Unterrichten liegt mir nicht. Lag mir nicht. Ich war in der Software-Entwicklung tätig. Es kostete mich viel Überwindung, nicht mehr mit ihm zusammen zu arbeiten. Wir wohnten aber zusammen. WG mit vier weiteren BewohnerInnen. Alles seine Freunde. Ich hatte ausser ihm keine.
Meine Mitbewohner probierten mich mehr zu integrieren, schauten zu mir als ich krank wurde. Sie meinten es alle gut. Aber mir war nicht zu helfen. Ich brauchte ihn. Nur ihn.
Ja, er hatte gute Freunde. Sie waren wirklich gut. Sehr gut. Zu gut für diese Welt. Wie lange es wohl dauert, bis auch sie hierher kommen? Bis auch sie fliegen werden?
Nach längerer Zeit, ich wurde schon langsam müde, flog ich endlich weniger schnell. Ich wurde immer langsamer und langsamer.
Ich sehe ein helles Licht, welches mich aber nicht wirklich blendet. Es wird immer grösser, ummantelt mich.
Und plötzlich stehe ich wieder auf festem Boden. Ich stehe vor einem Thron. Auf diesem sitzt eine Frau, welche eine Krone aufgesetzt hat. Sie hat ein rotes langes Kleid an und trägt goldene Schuhe. Sie trägt aber keinen Schmuck. Die weissen Haare hat sie zu einer schönen Frisur hochgesteckt. In ihren Haaren stecken verschiedene Blumen. Ich schätze das Alter der Frau auf 70 Jahre. Der Thron, auf dem sie sitzt, besteht aus weisser Watte. Moment. Ist es wirklich Watte? Ich gucke auf den Boden. Auch der Boden ist mit weisser Watte gepolstert. Ich ziehe meine Schuhe aus, um zu sehen, was das für ein Material ist. Es ist feucht. Ist es vielleicht eine Wolke? Das ist ja der Wahnsinn! Ich gucke mit grossen Augen zu der Frau auf dem Thron. Sie lächelt mich an. "Ja, es sind Wolken. Hier besteht alles aus Wolken." Sie hat eine glockenhelle Stimme. Sehr melodisch. Plötzlich beginnen hinter ihr Menschen zu singen. Sie singen 'Hallelujah'. Sind es wirklich Menschen? Sie können fliegen! Aber ich habe vorher auch fliegen können...
Ich schaue wieder die Frau an. "Kann ich jemanden treffen?" "Aber natürlich, mein Kind. Wen möchtest du denn treffen?" "Ich möchte ... Schnief ... möchte ... " "Hast du noch nie davon gehört, dass man im Himmel nicht weint? Hier gibt es keine Tränen." "Ich brauche ihn, der meine Tränen abtrocknet. Der mich zusammenflickt." "Du suchst nach Luca, richtig?" "Ja, genau. Woher wissen Sie das?" "Ich weiss alles, mein Schatz."
Die Frau auf dem Thron schaut wieder zu mir. "Hör zu, Lichter werden dich zu ihm führen. Lichter werden dich nach Hause führen. Zu deinem zu Hause. Zu ihm. Lichter werden dich heilen. Lichter werden dich wärmen. Lasse los. Lasse los, denn sonst wirst du nie erfahren, wieviel Wert du bist. Folge den Lichtern."
Nun sehe ich wieder dieses schöne Licht. Es wärmt mich. Genau so wie die Frau vorausgesagt hat. Ich spüre keine Schmerzen mehr, wie die Frau gesagt hat. Ich folge dem Licht, denn ich will zu ihm gelangen. Dem Licht entlang. Denn es wärmt mich, es heilt mich. Denn es wärmt mich, es heilt mich. Es wärmt mich, es heilt mich.
Ich spüre dass ich zu Hause angelangt bin. Ich fühle mich zu Hause. Plötzlich höre ich die Stimme von Luca: "Lisa?" "Luca?" "Was machst du denn hier? Bist du es wirklich?" Nun sehe ich ihn. Ich beginne zu rennen. Ich umarme ihn. Ich liebe ihn. Ich weine wieder. "Im Himmel gibt es keine Tränen, mein Schatz." Dies war die Stimme der Frau auf dem Thron. Meine Tränen trocknen.
Luca sagt: "Warum bist du hier, Lisa? Warum bist du schon hier?" "Ich war krank. Innerlich kaputt. Äusserlich kaputt. Kaputt." "Ich werde dich heilen. Ich werde dich wieder zusammenflicken. Hörst du? Du bist bei mir sicher. Ich werde dich wieder zusammenbasteln." "Luca, weisst du was ich dir sagen wollte? Genau damals, als du gingst?"
"Nein, aber ich weiss, was ich dir sagen wollte."
"Ich liebe dich."
"Das wolltest du mir damals sagen?" fragt er erstaunt. Ich nicke.
"Ich liebe dich auch."
"Wolltest du das damals sagen?" frage ich mindestens genauso erstaunt. Er nickt. "Kann man sich im Himmel küssen?" frage ich ihn. "Ich weiss es nicht. Ich verspürte nie den Drang, jemanden zu küssen. Ich wollte nur dich. Nur dich." "Wollen wir es probieren?" "Vielleicht ist es ja doch noch nicht zu spät..."
Ich küsse ihn. Mitten auf den Mund. Ein wahres Feuerwerk an Gefühlen überschüttet mich. Es ist überwältigend. "Ich glaube echte Liebe zu sehen. Darum dürft ihr euch küssen, soviel ihr wollt." - wieder die Stimme der Dame vom Thron.
Ich schaue Luca in die Augen. "Hast du das auch gehört?" frage ich. Er nickt. "Wer ist das? Wer ist sie?" "Sie ist die Herrscherin des Himmels, der Erde. Sie herrscht über die Lebendigen und über die Toten." "Ist sie sowas wie ein Gott?" "Ja, aber sie herrscht über alle Menschen. Nicht nur über Christen. Sie ist deshalb nicht Gott. Sie heisst 'Natur'. Sie ist die Natur."
Ich fühle mich geheilt. Ich wurde zusammengeflickt. Von der Natur. Und von Luca.
Ich liebe ihn.
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What about dying?
Short StoryWas ist mit dem Tod? Was ist mit dem Sterben? - so wird 'What about dying' übersetzt. Was passiert wenn man stirbt? Was ist nach dem Tod? Was passiert mit dem Körper, mit der Seele? Dies sind Fragen, die die Menschheit schon seit deren Bestehen inte...