Der Weg - Herbert Grönemeyer

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Ich sehe mich um. Ich befinde mich auf einer Bühne. Auf meiner Bühne. Meiner Lebensbühne.

Ich spiele heute zum letzten Mal. Mein Stück. Es geht um Liebe, um Geborgenheit. Meine Enkel, meine Kinder, meine Frau. Sie alle schenken mir Geborgenheit und Liebe, jeden Tag. Sie sitzen in der ersten Reihe. Sie werden nach mir aufführen. Ihre Geschichten.

Ich sitze im Wohnzimmer, auf meinem Sessel. Es ist Weihnachten. Meine Frau Hannelore sitzt neben mir in ihrem Sessel. Ich halte ihre Hand. Alle unsere drei Töchter sind heute zu Besuch. Zusammen mit ihren Familien. Wir haben drei wunderbare Schwiegersöhne. Natürlich haben wir noch bessere Enkel. Es sind fünf. Sie spielen gerade beim Weihnachtsbaum. Wir haben vorher gegessen. Es gab Fondue. Ein gutes altes Käsefondue. Es sind alle satt. Wir werden gleich die Geschenke auspacken, doch vorher singen wir noch. Ich kann nicht mehr so gut singen, doch die anderen singen immer wunderschön. Thomas, der Mann von unserer Tochter Simone, ruft die Kinder wieder zu uns. Nun sitzen wir alle in einem Kreis, gucken den Tannenbaum mit den Kerzen an. Sie brennen bereits. Sabina, die beste Sängerin unserer Familie, stimmt 'Oh Tannenbaum' an. Alle singen mit glänzenden Augen. Es ist wunderschön. Sogar die Enkel können sich still halten. Sie lieben es zu singen. Genau wie ich früher. Ich war ein guter Sänger. Ich war sogar im Kirchenchor. Nun singen sie 'Ihr Kinderlein kommet'. Sie singen es sogar mehrstimmig. Ich mag dieses Lied sehr gerne. Es war das Lieblingslied unserer Lehrerin in der Primarschule. Wir haben es vor Weihnachten jeden Morgen gesungen. Jetzt kommt 'Still, still still'. Meine Mutter hat dieses Lied geliebt. Es lief früher häufig im Radio, in der Vorweihnachtszeit. Unterdessen singen sie 'Stille Nacht, heilige Nacht'. Ein richtiger Weihnachtsklassiker. Wir haben ihn immer in der Kirche gesungen. Ich mag das Lied. Ja, ich mag es wirklich sehr. Es erinnert mich an die Weihnachtszeit. Zum Schluss kommt aber mein absolutes Lieblingslied. Sabina sagt: "So, nun noch das Lieblingslied für Opa. Freust du dich?" "Und wie!" sage ich grinsend. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Das Lied heisst Leise rieselt der Schnee. Die erste Strophe mag ich am meisten. Sie ist einfach perfekt geschrieben: "Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See, weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich Christkind kommt bald" Wir hatten in unserem Dorf einen See, welcher im Winter immer zufror. Wir gingen jeden Tag Schlittschuhlaufen. An Heiligabend jedoch war er immer still und starr. Genau wie es im Lied heisst. Nun haben sie das Lied fertig gesungen. Ich klatsche. Es ist jedes Jahr noch schöner. Es ist einfach perfekt, ihre Stimmen, dieses Lied. Das Leben ist perfekt. Ja, ich hatte es nicht immer leicht, auch jetzt nicht, doch das Leben ist auf seine eigene Art perfekt.

Ich werde langsam träger. Meine Augen müde. Ich merke, dass es nicht mehr lange gehen wird, bis der Vorhang fällt. Die Geschenke wurden noch nicht ausgepackt, aber dieser Akt ist bei den Liedern fertig. Ich fand, dies sei ein schöner Abschluss.

Ich verneige mich. Ich verneige mich ein letztes Mal. Vor meinem Publikum. Vor meinem Leben. Ich hatte es so gut. Ich verneige mich vor allen Leuten, die mir geholfen haben. Sie haben gemacht, dass ich an mich glaube. Aber auch vor denen, die mich im Stich gelassen habe. Sie haben mich stark gemacht.

Ich höre tosenden Applaus. Ich bin überrascht, dass ich soviel Applaus kriege. Ich habe nicht so gut gespielt. Ich höre Rufe, welche eine Zugabe einfordern. Doch es gibt keine Zugabe mehr. Mein Stück ist komplett zu Ende. Ich sehe, wie der Vorhang beginnt, zu fallen. Ich verneige mich ein letztes Mal. Ein aller letztes Mal.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 30, 2019 ⏰

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