Wie war es wieder Abend geworden?
Jess lehnte sich weit aus dem Fenster, ließ seine Arme in der Luft baumeln. Er streckte seine Finger, beobachtete, wie sich die Sehnen unter seiner hellen Haut abzeichneten. Der Himmel war fast ganz dunkel. Im Westen, über dem Park, flimmerte die Luft noch leicht. Wenn Jess die Augen zukniff konnte er sogar noch vereinzelte Menschen erkennen, die auf der Wiese lagen. Aber dann wurde es immer dunkler und irgendwann war das Licht in seinem Zimmer zu hell und nahm ihm den Blick.
Jess schloss seufzend das Fenster und zog die Vorhänge zu. Die Musik in seiner Anlage lief immer noch. Wie lange schon? Jess massierte seine Stirn. Fast war es, als würde sie die Wände hochklettern, irgendwo hinter seiner Stirn pulsieren. Dann drehte er sie runter.
Es war ganz still. Dumpf drangen die Geräusche von der Straße in sein Zimmer, die Uhr über seiner Tür tickte regelmäßig. Jess sah auf das blaue Display. Die Neonbuchstaben zeigten an, dass das Lied noch lief. Fast wollte er den Arm ausstrecken, um es wieder hochzudrehen. Dann ließ er ihn wieder sinken. Soll das Lied ruhig weiterlaufen, auch wenn keiner es mehr hörte. Dann würde es ihm ergehen wie mir selbst, dachte er und musste grinsen.
Er gähnte und sein Blick verschwamm leicht. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Ohne die Musik kam ihm alles furchtbar laut vor. Jess ließ sich auf den Stuhl sinken und stütze sein Kopf auf seine Hände. Wie spät war es?
Leicht lehnte er sich vor und kniff die Augen zusammen. Kurz vor neun. Er fasste in die feuchte Farbe der Palette. Fluchend wischte Jess sie ab, dann betrachtete er wieder sein Bild. Hm, dachte er und legte den Kopf schief.
Die Staffelei stand auf seinem Schreibtisch. Sie war noch ganz neu, nur eine Schraube war ein wenig locker. Er musterte die Leinwand, wusste selbst nicht, was er sah. "Genial", flüsterte Jess vor sich hin und nickte langsam.
Er pustete leicht und fing einen Farbtropfen auf. Dann verrieb er die Farbe auf seiner Fingerspitze und wischte er sie an seinem T-Shirt ab. Er wandte sich ab und nahm sich eine Zigarette.
Als die Kirche zwei Straßen weiter neun Uhr schlug, stieß Jess die Balkontür auf.
Der Tag war schnell vorüber gewesen. Kalt und strahlendes Wetter seit dem Morgen. Er konnte sogar Sterne sehen. Jess legte seinen Kopf in den Nacken und versuchte sich das Bild einzuprägen. Aber je länger er hinschaute, desto weniger wurden es. Als würden sie vor seinen Augen verschwinden. Vielleicht waren sie sich zu schade, um von ihm gesehen zu werden.
Seufzend stützte er sich auf das Geländer und klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Dann zündete er sie an und blies den Rauch gegen die kalten Nacht. Er stand da lange so und beobachtete die Menschen unter ihm. Er zählte genau 33, dann schnippte er die Kippe über das Geländer.
Der Junge hieß Jess und war 17.
Wer er war? Das fragte er sich auch, genau in diesem Moment als er so über der Stadt stand. Atemberaubend, dachte er. Er war atemberaubend- ja was eigentlich? Besonnen war er nicht, dachte er. Grinsend fuhr er sich übers Gesicht. Besonnen, dachte er, was ist das schon und schaute dann gelassen über den Park.
Er wohnte im höchsten Stock eines Altbautes, so hoch oben, dass wenn er springen würde, er vielleicht der höchste Punkt der Stadt wäre. Im Haus gegenüber ging ein Licht an.
Er ließ die Nacht eine Weile auf sich wirken, dann setzte er sich und ließ seine Beine zwischen den Stäben in der Luft baumeln. Er lehnte seinen Kopf an das kühle Metall und überlegte, ob er zum Supermarkt gehen und sich was zu Essen kaufen sollte. Stattdessen stand er nur auf und sein Blick fiel auf eine schwarze Katze, die ihn von der Straße misstrauisch beäugte.

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À demain
RomanceJess ist der, der nachts alleine an ner Brücke sitzt, mit Tauben spricht und sich weit übers Geländer hängt, um den Wind in seinen Haaren zu spüren. Er schleicht sich in die UBK und träumt vom Künstlersein, während er im echten Leben nichts auf die...