Komm, begleite mich ein Stück ...
Wie eine Feder, getragen vom sanften Wind, gleite ich hoch über den Köpfen der Menschen dahin. Unsichtbar, unbemerkt, schwerelos.
Es stimmt tatsächlich, sie sehen aus wie Ameisen. Genauso winzig, nur sehr viel unkoordinierter. Geschäftig rennen sie in alle Himmelsrichtungen. Die für London so charakteristischen Taxis und Busse kriechen zwischen anderen Fahrzeugen in langen Kolonnen dahin, dicht an dicht gedrängt, hupend. Sie verleihen den Adern dieser Stadt ihren eigenen metallenen Glanz. Der Berufsverkehr schimmert schwarz-rot.
Von oben betrachtet ist die Welt doch am schönsten.
Ich beobachte das hektische Treiben auf den Straßen, aber ich bin so weit davon entfernt, dass es mich nicht berührt, geschweige denn stresst.
Nein, ich lächele nur amüsiert angesichts dieses Bildes. Es sieht wirklich so aus, als habe man eine Schaufel voll Menschen wahllos irgendwo abgeladen, und diese Menge, ein jeder für sich, versucht jetzt kopflos, wieder in eine vertraute Struktur zurückzufinden.
Einige Kinder, ein dunkelblond gelocktes Mädchen und drei rothaarige Jungs, stehen auf einem großen Platz tief unter mir, lassen Luftballons aufsteigen und winken ihnen nach. Während sich die Jungs bald schon wieder abwenden und lautstark nach einem weiteren Eis vom nahegelegenen Stand verlangen, schaut das Mädchen mit dem wirren Lockenkopf noch lange hinter ihrem Ballon her. Als ahne die Kleine, dass seine Reise bedeutungsvoll sein wird, starrt sie ihm aus weit aufgerissenen, hellgrünen Augen nach. Hoffnungsvoll.
Es ist ein süßer Anblick, der mich für einige Zeit fesselt.
Nun, ihren roten Ballon, der sich zwischen all den anderen in die Lüfte emporhebt, und besonders seine wertvolle Fracht – die Postkarte, die an der langen Schnur unter ihm im Wind trudelt – habe ich tatsächlich bereits erwartet. Sie sind Teil meines Plans.
Mein Plan, richtig!
Also nehme ich meinen Weg wieder auf, rufe dem kleinen Mädchen unter mir ein lautloses »Bis bald!« zu und werde sanft weitergetragen. Über altehrwürdige Bauten hinweg, den breiten Fluss, der immer leicht trüb aussieht, die großen Parkanlagen und sich enger und enger verzweigende Straßen, bis zum Rande der Stadt. Dorthin, wo die Häuser flacher und die Dächer steiler werden. Schließlich kann man sogar einige Vorgärten erkennen. Auf einem Sportplatz spielen Halbwüchsige Fußball. Sie schreien und rufen, und ihre Energie und Unbekümmertheit tut so gut, dass ich für einen Moment verweile.
Aber bald geht meine Reise weiter. Immer dem roten, mit Heliumgas gefüllten Luftballon nach, so könnte man meinen. Was natürlich ein Trugschluss wäre, denn ich folge ihm nicht. Nein, ich leite ihn.
Mein Weg führt mich entlang einer breiten Allee bis zu einer gelben Vorstadt-Villa im viktorianischen Stil, über deren Dach mich mein Freund, der Wind, mühelos hinweghebt. Auf mein Kommando hin teilt er sich und lässt einen seiner unzähligen Arme geschickt kreisen. Der Ballon – und mit ihm auch die Karte – wird in den Luftstrudel gesogen und sinkt langsam herab. Die lange Schnur verheddert sich in einem Buchsbaum unmittelbar vor der Villa.