↬ 02. Nehmen und Geben

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02. Nehmen und Geben

Harry

Ich wurde von meinem kleinen Bruder Paul dabei gestört Notizen für meine Zeichnung zu schreiben.

„Was ist Paul?", atmete ich genervt aus. Ich liebte meinen Bruder aber manchmal konnte er ziemlich nervig sein. „Kann ich deinen Laptop haben?" „Wofür?", wanderten meine Augenbrauen kritisch nach oben. Zwar gab er mir eine Antwort aber wirklich verstehen tat ich es nicht.

„Über was?! Nuschel nicht immer so", erwiderte ich, woraufhin Paul den Satz langsamer und lippenbetonter wiederholte. Widerwillig richtete ich mich von meinem Bett auf und lief gegenüber zu meinem Schreibtisch, um Paul meinen Laptop bereitzustellen. „Der bleibt hier", hinderte ich ihn daran mit dem Laptop zu verschwinden. Ich kannte doch meinen Bruder.

Augenverdrehend setzte er sich an meinen Schreibtisch und begann das Internet nach Informationen zu durchkämmen.

Allerdings erwischte ich ihn irgendwann durch Zufall wie er ein Onlinespiel spielte. Wutentbrannt pirschte ich mich von hinten an und schlug mit meiner rechten Hand laut auf den Tisch, sodass Paul zusammenzuckte.

„Ich glaube kaum, dass dein Spiel hier etwas mit Planeten zutun hat", meinte ich und hoffte, dass mein Ärger zu hören war, „Du hast Mom etwas versprochen. Also halt es bitte auch."

„Kümmere dich um deine eigenen Probleme, Harry", zischte Paul zurück und verschwand aus meinem Zimmer. Ich atmete einmal tief aus, ehe ich Paul in sein Zimmer schräg gegenüber folgte.

„Glaubst du uns geht es besser als dir?", setzte ich mich auf die Bettkante, wobei Paul mir den Rücken zugewandt hatte. „Das ist für uns alle nicht leicht aber das Leben geht weiter. Mit oder ohne Dad."

Unser Vater hatte sich vor sechs Monaten wegen einer neuen Frau von unserer Mutter getrennt. Den wirklich wahren Grund für die Trennung verschwieg meine Mutter jedoch.

Besonders Paul nahm es mit, dass unser Vater sich seitdem nur noch sporalisch meldete. An Paul's Geburtstag vor zwei Wochen hatte er nur eine mickrige Karte geschickt, die nicht einmal von ihm unterschrieben war.

„Aber du kannst deine miese Laune, auch wenn sie sicherlich berechtigt ist, nicht an uns auslassen. Das bringt doch keinem was", fügte ich hinzu während Paul sich langsam zu mir umdrehte.

„Ich vermisse ihn, obwohl ich weiß, dass er was Böses gemacht hat", schlurchzte Paul, wonach ich ihn in eine Umarmung zog. „Du kannst Dad vermissen, aber du kannst nicht erwarten, dass wir das auch tun." „Du hasst ihn, oder?", durchbohrten mich seine hellbraunen glasigen Augen. „Ja", gab ich ehrlich zurück, wobei im selben Moment unsere Mutter den Raum betrat. Sofort sprang Paul auf und rannte an unserer Mutter vorbei. „Mom ich", ich stoppte, da sie mir mit einer Fingerbewegung deutete nicht weiterzusprechen.

Stattdessen ging sie ohne ein weiteres Wort vor mir nach unten ins Esszimmer, wo sich Paul bereits an der Lasange bediente. Das Essen verlief ausnahmsweise sehr still. Sonst redeten und lachten wir viel. Wir erzählten jeweils von unserem Tag und all solche Dinge. Meine Schwester Gemma wohnte schon seit einigen Jahren mit ihrem Freund in London während ich noch mit dem Rest meiner Familie in Manchester lebte.

Eigentlich wollte ich mit Louis eine Wohngemeinschaft gründen aber das hatten wir sein gelassen als mein Vater gegangen war und Louis' Mutter die Diagnose Leukämie bekam.

Ich machte mir nicht die Mühe zu erfahren was Paul meiner Mutter gesagt hatte, damit er aufstehen durfte. Manchmal war ich froh mich einfach von der Außenwelt ausklinken zu können, in dem ich einfach nicht mehr auf die Lippen der Menschen achtete.

Seit drei Jahren hatten meine Augen für meine Ohren das Hören übernommen.

Anfangs war es schwierig nur anhand der Lippenbewegungen herauszufiltern was eine Person mir mitteilen wollte. Doch mit der Zeit hatte ich es gelernt. Gebärdensprache hingegen lag mir überhaupt nicht. Paul hatte seinen Spaß gehabt es zu lernen. Aber ich war jemand der sich lieber auf den Menschen und das Gespräch fokussierte.

Ich wollte meinem Gegenüber möglichst in die Augen schauen anstatt mit den Armen und Händen rumzustrangerlieren. Die Leute behandelten einen dann gleich ganz anders.

Denn ich wollte trotz dieses Handicaps so normal wie möglich leben und von Außenstehenden auch so gesehen werden.

Ich beneidete die Menschen, die sich morgens in der U-Bahn ihre Kopfhörer reinsteckten und die Musik auf volle Lautstärke stellten, wenn der Lärmpegel zu hoch und vorallem zu nervig wurde.

Natürlich hörte ich das Babygeschrei oder das kratzige Husten meines Sitznachbarn generell nicht aber was würde ich alles geben, um noch einmal ein einziges Lied hören zu können.

Musik war schon als Kind eine meiner größten Leidenschaften gewesen. Ich vermisste es mir die Ohren mit Liedern von den Beatles oder Coldplay zu zudröhnen.

Denn ich hörte ab und zu nur noch ein Summen, das aber irgendwann so leise wurde, dass ich auch das nicht mehr hören konnte.

Wenn ich die Wahl hatte zwischen meinem Gehör und den Augen, würde ich dennoch die Augen wählen.

Das war ein krasser Unterschied.

Wieso?

Die Augen waren die Könige unserer Sinne.

Sie leiteten uns und schenkten uns mit ihrem Sehvermögen ein buntes und aufregendes Leben.

Mit dem Gehör widerrum nahmst du nur Stimmen und Geräusche wahr, die als zusätzliche Orientierung oder Ablenkung dienten. Auch damit man besser kommunizieren konnte.

Wenn du blind warst musstest du dich auf dein Gehör verlassen. Warst du gehörlos musstest du dich auf deine Augen verlassen.

Es war wie immer im Leben. Ein Nehmen und Geben.

Wie findet ihr das Kapitel?🌵

Was sagt ihr zu Harry's Gedanken?

- sari🌸

Happily ↬ h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt