Chapter 1 (Wie alles begann)

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"Dunkel. Alles war dunkel. Und ich war alleine. Ganz alleine, in meinem Zimmer. Was kam wusste keiner. Aber das war mir sowieso alles egal. Ganz langsam setzte ich mich auf. Gefühlte Stunden saß ich so da, während ich der Musik lauschte, die über die Kopfhörer in meine Ohren drang.
Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Ich hatte den Entschluss gefasst, ich würde es tun. Ich versuchte aufzustehen. Mit zitternden Beinen und gesenktem Kopf musste ich mich übergeben.
Es zog sich durch meinen ganzen Körper. Und es tat weh. Aber hey, Schmerz war ich ja schon gewohnt.
Das Brechen zwang mich auf die Knie. Eine unangenehme Art von Schüttelfrost überkam mich auf einmal. Ich stütze mich auf den Ellenbogen ab. Heiße Tränen flossen auf meiner Wange hinab. Wie lange ich sie schon nicht mehr fließen lassen habe. Ein kurzes Husten unterbrach meinen Weinanfall.
Auf einmal hörte alles auf. Es schien, als würde die Welt nicht mehr existieren. Alles war leise. Nichts regte sich mehr. Das einzige Geräusch, das ich wahrnahm, war das Ticken der Standuhr, die im Wohnzimmer stand. Mit viel Mühe stützte ich mich am Rand des Bettes auf und schon drohte ein erneuter Brechanfall. Aber dieses Mal war es mir egal. Der Moment war gekommen.

Die schwachen Beine trugen mich schlussendlich doch noch ins Badezimmer, wo ich wieder zusammenbrach. Entschlossen streckte ich die Hand so weit nach vorne, wie es nur möglich war, doch an den Schrank kam ich nicht ran, deshalb zog ich mich nach vorne. So kroch ich durch das ganze Bad, bis ich mich bei dem Schrank wieder aufrappeln konnte. Mit ungeschickten Bewegungen versuchte ich das kleine Geheimfach an der Seite zu öffnen. Nach gefühlten Stunden brach es auf. Es wird sowieso das letzte Mal sein, also ist das auch schon egal, dachte ich fast schon wütend. Mit einer eingeübten Handbewegung, griff ich nach dem Ding, das sich in der kleinen Schachtel befand. Ich nahm es raus und starrte es an. Es würde über mein Leben bestimmen.

Sachte setzte ich es an mein Handgelenk an. Keine Ahnung, wie lang ich so da auf dem Boden kniete und die Klinge anstarrte. Der Moment war gekommen. Es war soweit. Ich würde mich gleich frei fühlen.
Noch einmal atmete ich tief ein. Dann wieder aus. Ein Seuftzer folgte. Langsam drückte ich das scharfe Ding fester an mein Armgelenk, doch wie erwartet, passierte nichts. Gerade als ich es endgültig beenden wollte, als ich mein Leben beenden wollte, passierte es. Ein Vibrieren direkt neben mir. Mein Handy. Ich hatte es am Abend zuvor dort liegen gelassen. Doch ich beachtete es nicht, aber blieb ich erstarrt. Meine Augen weiteten sich und ich blickte auf mein Gelenk. Nichts. Ich hatte es nicht getan. Langsam legte ich die Klinge weg und nahm das Handy in meine gerettete Hand.
Eine Nachricht. Von einer mir unbekannten Nummer.
>Hey
Mehr war da nicht. Keine Ahnung, was in diesem Moment in mir vorging. Auf jeden Fall war ich verwirrt. Ich schrieb zurück.
>Hi.
Ja, das war meine Antwort. Ich wusste nicht einmal, warum ich zurück geschrieben hatte. Ich wusste ja auch noch nicht, in was für eine Situation mich das bringen würde."

Und das ist die Geschichte, wie mich jemand DAVOR gerettet hat. Es geht mir nicht besser. Aber ich bin zum Nachdenken gekommen. Wenn man das so nennen darf. Ich habe überlegt, trifft es eher.

Nun sitze ich in der Schule. Es ist heiß. Sehr heiß sogar. Wen wundert es? Es ist schließlich nicht das Jahr des sicheren Wetters. Dieser Sommer war einfach nur zum Kotzen. Das Wetter war, als wäre es durchgehend April. So wie jetzt immer noch. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn man zu Weihnachten im Schwimmbad sitzt und im Juli skifahren geht.
Jetzt ist es auf jeden Fall zu heiß. Jeder schwitzt, hat sich ein Fächer aus Papier gebaut, liegt auf seinem Stuhl und versucht so wenig wie möglich vom Unterricht abzubekommen. Ich jedoch liege halb über der Bank, habe, anders als die anderen, ein langes, schwarzes Kleid an, das mich die Hitze noch intensiver spüren lässt als andere. Nebenbei sitze ich alleine und habe somit genug Platz um zu tun, was ich will.
Der Zeichenblock liegt vor mir, der Bleistift daneben. Da ich in der letzten Reihe, in der Ecke sitze, beachtet mich sowieso keiner. Nicht einmal die Lehrer. Oder nur selten. Aber die bemerkt sowieso gar niemanden. Frau Wittwer steht an der Tafel und kritzelt irgendwas daher, was eh niemanden mehr interessiert. Notenschluss ist vorüber. Die Sommerferien stehen vor der Türe.

Nachdenklich sehe ich aus dem Fenster. Die Sonne strahlt, jedoch auf der Nordseite und unsere Fenster sind in Richtung Südseite gerichtet, weshalb ich sie nicht sehen kann. Jedoch bietet sich ein "wunderschöner" Ausblick auf das Panorama von meinem kleinen, unbedeutsamen Dorf. Ich hasse es. Ich hasse diese Aussicht, ich hasse diese Bäume, ich hasse die Berge, ich hasse die Leute und ich hasse das Dorf. Ich hasse einfach alles hier. Mein größter Traum ist es, weg zu kommen von hier. Aber das wird wohl kaum passieren, was vielleicht auch gut so ist. Meine Noten sind zu schlecht, meine Motivation ist nicht Vorhanden. Außerdem ist es doch irgendwie mein Zuhause. Nein, ich will doch hierbleiben. Irgendwie.
Ich bin ein Einzelkind, das mit seinen Eltern am Rand von Pawan wohnt. Ein kleines, absolut unbekanntes Dörfchen in Österreich.

"Claire", Stella stupst mich an und flüstert meinen Namen so leise wie möglich, jedoch laut genug, dass ich es wahrnehme. "Was denn?", antworte ich desinteressiert, den Kopf immer noch auf der linken Hand abgestützt. Doch ein aufgesetztes Husten von Frau Wittwer lässt mich einen Blick nach vorne werfen, wo sie an der Tafel steht, die Hände in die Hüften gestemmt, mit dem Fuß auf den Boden klopfend und mich eindringlich anstarrend. Die ganze Klasse hatte nun den Blick zu mir gewendet. Seuftzend lese ich das, was an der Tafel steht leise für mich durch und gebe dann ein selbstsicheres "12 • x² √3" von mir. Ein Talent für Mathe hatte ich schon immer. Doch es ist echt langweilig. Wirklich. Das einzige Fach, bei dem ich eine Schwäche zeige, ist Turnen. Ich habe dieses Fach schon immer gehasst. Ich bin eben einfach unsportlich, daran kann nicht einmal meine eigentlich relativ sympathische Lehrerin was ändern. Meine Mutter beneidet mich sehr um meine, trotz der Unsportlichkeit, recht schönen Figur. Ich bin dick. Aber wer findet sich schon nicht zu dick? Ist man dünn, fühlt man sich zu dick. Ist man normal, fühlt man sich dick. Ist man dick, fühlt man sich dick. Teufelslinie. Ja. Linie. Oder siehst du hier einen geschlossenen Kreis?

Schmollend, dass ich die richtige Antwort gegeben habe, dreht sich unsere Mathelehrerin um und kritzelt weiter Zeug an die Tafel, was sowieso niemand mitschreibt. Da mir ziemlich langweilig ist, machte auch ich mich daran, einen sorgfälltig gefalteten Fächer zu basteln und mir Luft zuzufächern. Die Zeit kam mir bis jetzt selten so lang vor wie jetzt. Ich ignoriere Stellas weitere Versuche auf ein Gespräch.

Da, endlich erklingt die Schulglocke. Die Schule ist endlich vorbei. Ganz langsam werfe ich die Schultasche über die Schulter und stuhle meinen Stuhl auf, so wie die anderen es ebenfalls getan haben, bevor sie aus dem Klassenzimmer gestürmt sind. Ich bin eigentlich immer die Letzte, die die Klasse verlässt. Ich bin ein eher ruhigerer Mensch. Zumindest wirke ich so. Innerlich streite ich oft mit mir selber und werde oft sehr laut.
Als ich aus der Klasse trete, scheint es, als ob alle Leute wie ausgelöscht sind. Das Einzige, was man hören kann, sind die Vögel, das Einzige was man sehen kann, die Sonnenstrahlen, wie sie sanft die Holzwände und Böden mit ihren Strahlen streicheln. Bei genauem Hinsehen erkennt man auch kleine Pollen, wie sie durch den Gang schwirren. Meine Schule ist zwar klein und nicht gerade entzückend was den Unterricht betrifft, aber schön eingerichtet ist sie, das muss man ihr lassen.
Bis ich bei den Spinds bin, vergehen gefühlte Stunden, in denen ich nichts weiter tue, als meine Lebenszeit zu vergeuden. Wie gewohnt muss ich nur drei Mal auf den Schrank einschlagen, bis er endlich aufgeht und ich mich anziehen kann.

Mit den Kopfhörern in den Ohren, die laute Musik abspielen, warte ich nun an der Bushaltestelle auf meinen Bus, den ich um 2 Minuten verpasst habe. So wie immer. Mein Musikgeschmack ist ziemlich eigen. Ja, eigen beschreibt es gut. Wirklich festgelegt habe ich mich nicht. Mein grundlegendes Prinzip ist Folgendes:

"Mit Liedern ist es wie mit Menschen. Entweder sie sind einem sympatisch und man mag sie, oder man "muss ihnen nur einmal über den Weg laufen" und man weiß sofort, man wird dieses Lied niemals mögen."

Im Moment jedoch, fällt mir gerade auf, ist meine Lieblingsplayliste fast durchgehend mit eher ruhigerer und emotionaler Musik gefüllt. Zum Beispiel "Between the Bars" von Elliot Smith oder "Gospel" von The Nationals (Schleichwerbung xD). Ich mag diese Lieder einfach. Sie passen irgendwie zu mir. Die Schule endete heute um 16:00 Uhr und jetzt ist es schon 16:48 Uhr und ich laufe immer noch das letzte Stückchen, das mich von der Bushaltestelle in der Nähe von meinem Zuhause trennt, entlang. Ich will nicht nach Hause. Dort erwarten mich jetzt nämlich ein Haufen Hausaufgaben und Standpauken von meinen Eltern, wegen dies und jenem. Uff.

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