Meto: Ein erster Blick

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Schweigen. Stille. Kein Ton, kein Laut, kein Geräusch. Nur vielleicht das Ticken der Uhr an der Wand meines Zimmers, und das kaum hörbare Piepsen meines PCs im Standby-Modus. Aber kein Wort. Ich saß seit bestimmt einer Viertelstunde auf meiner Bettkante und starrte Löcher in die Luft, wie so oft. Draußen schien die Sonne, ich spürte sogar ein wenig Wärme auf meiner Haut. Aber zugleich auch Angst. Angst vor draußen, vor den Menschen dort, ihren Blicken und Bemerkungen, mit denen ich nicht umgehen konnte, aus demselben Grund, aus dem ich in diesem Moment in Stille hier saß. Ich konnte nicht sprechen.

Nun ja, theoretisch beherrschte ich die Sprache. Ich konnte ganz normal Worte denken, und lesen und schreiben ging auch, man konnte sogar meine Handschrift als ‚schön' bezeichnen. Aber sobald ich versuchte, etwas zu sagen, wirklich auszusprechen, versagte ich, brachte nur stotternde, ungeordnete, dumm klingende Satzteile zustande.

Das war noch nicht immer so, hatte erst begonnen, als ich in der Mittelschule war, und jetzt, mit achtzehn Jahren, war es so weit, dass ich fast gar nicht mehr sprach, vor lauter Scham über meine Unfähigkeit. Ich hatte jetzt vor Wochen zuletzt wirklich gesprochen ...

Die Schule hatte ich mit Ach und Krach hinter mich gebracht, mich aber nie für eine Universität beworben. Wie sollte ich denn so, wie ich war, auch irgendwo angenommen werden?

Und nachdem sich das Thema Uni also erledigt hatte, hatte ich mich mit meiner ganzen Energie einem anderen Projekt zugewandt, das in die entgegengesetzte Richtung wies: Visual Kei.

Ich hatte meine Haare färben lassen, zuerst blond, dann hellblau, trug einen Sidecut und Undercut auf beiden Kopfseiten, so eine richtig schöne Punkfrisur, mit der ich mich echt wohl fühlte. Entsprechende, schräge, schwarz-bunte Klamotten waren dazu gekommen, und dann die Piercings, an meinen Ohren, Lippen, meiner Nase ...

Und als mir auch das zu wenig gewesen war, weil ich meine Freude an der Körperkunst entdeckt hatte, kamen zwei Tattoos dazu. Zuerst ein rot-schwarzes Anarchie-A auf meiner Brust, geschmückt von zwei weiteren Piercings dort. Und dann, als ich in der Materie so richtig aufging, hatte ich mich mit einer sehr fähigen und lieben Tattoo-Künstlerin zusammengesetzt und mein eigenes Motiv entwerfen lassen: Ein knallbunt gemaltes Baby im Mutterleib, das seinen Platz schließlich auf meiner linken Brustseite fand, und sich mit weiteren bunten Elementen bis auf meinen linken Arm und meine Hand ausdehnen sollte. Es war ein schräges, verrücktes, durchgeknalltes Bild meiner Selbst, das Baby trug dieselben Ohr-Piercings wie ich. Noch war nur dieses Baby bunt, vom Rest hatte ich nur die noch ungefärbten Linien auf dem Arm, etwa bis zum Ellbogen.

Doch in letzter Zeit hatte ich nicht mehr daran weiter arbeiten lassen. Nicht, weil es mir nicht mehr gefiel, sondern weil ich kaum noch das Haus verließ. Ich lebte mit meinen Eltern in einem sehr großen, edlen Haus, das sich gut und gerne als Luxus-Villa beschreiben ließ, und weil meine Eltern viel arbeiteten, um unseren Reichtum zu erwirtschaften, war ich meistens alleine. Ich fühlte mich einsam, doch zugleich wollte ich nicht mehr raus gehen. Eine Angst hatte von mir Besitz ergriffen, die sich vielleicht mit „Sozialphobie" beschreiben ließ und mich auch nahe an eine Art Depression brachte.

Ich erwog jeden Tag ein Stückchen mehr, einfach gar nicht mehr raus zu gehen. Das Wort Hikikomori schwirrte mir durch den Kopf, und ich dachte, vielleicht würde das meine Art zu leben sein. Zu meinen früheren Schulfreunden hatte ich längst den Kontakt verloren, neue Freunde fand ich wegen meiner Sprachprobleme nicht, nur ein paar Internetkontakte, die sich ja vielleicht ausbauen ließen ...

Meine Eltern merkten langsam schon, dass es mir nicht gut ging, aber ich sprach nicht mit ihnen darüber, wollte sie nicht belasten. Und ganz sicher, dass ich zum Hikikomori werden wollte, war ich auch noch nicht.

Koi no mae wa ...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt