Vier

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Die Leute um uns herum sind lebhaft und die Luft ist gefüllt von vielen Stimmen und Lachen, als wir den Speisesaal betreten. Nach der Ëna sollte ich nicht mehr von seiner Größe überrascht sein, aber ich bin es dennoch. Reihen und Reihen von Tischen erstrecken sich über den langen Saal, die gewölbte Decke ebenfalls wieder mehrere Meter über unseren Köpfen und versehen mit zahlreichen Kronleuchtern. Mit dem riesigen Buffet, das sich über die rechte Wand erstreckt, erinnert es ein wenig an eine Kantine - nur mit mehr Stil.

Amaya führt uns zum Buffet, an dem sich eine lebhafte Schlange tummelt, doch es gibt kein Gedränge. Es gibt eine relativ große Auswahl und ich lade mir so viel auf meinen Teller, dass ich kurz in Erwägung ziehe einen zweiten zu nehmen.
Die langen Tafeln sind noch relativ leer, doch Amaya steuert gezielt einen Tisch an und setzt sich an dessen Ende. Keith und ich folgen ihr einfach, da wir sonst nicht wüssten wohin.
Die Bänke sind genauso wie die Tische aus Holz und schlicht, aber edel verziert.
Während Keith sich neben mir niederlässt kaue ich bereits an meinen ersten Bissen. Das Essen schmeckt hervorragend, was allerdings auch lediglich meinem Hunger geschuldet sein könnte.
Immer mehr Hexen und Hexer strömen in den Saal und füllen ihn mit gemischten Stimmen und ausgelassenem Gelächter.
»Woher bekommt ihr die Lebensmittel?«, fragt Keith, während er deutlich langsamer als ich beginnt zu essen. »Handel mit der Außenwelt«, erwidert Amaya, ihre Serviette ordentlich in ihrem Schoß ausbreitend, »Wir müssen viel importieren, nicht nur Nahrung.«
Bevor er antworten kann taucht ein Mädchen an unserem Tisch auf und lässt sich ohne Vorwarnung neben Amaya nieder.
»Vera«, stellt sie sich lediglich knapp vor, ehe sie sich schon an das schwarzhaarige Mädchen wendet. »Theo hat mich gefragt, ob ich Freitag Zeit hab«, erzählt sie ihr mit leuchtenden Augen und einem Grinsen auf den Lippen.
Ihre Freundin schmunzelt und hebt leicht die Augenbrauen.
»Hast du denn Zeit am Freitag?«, entgegnet sie amüsiert, während sie isst.
»Ich muss nachsitzen und das Buch für Wesenkunde lesen«, stellt Vera grimmig fest und streicht sich eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr, ehe sich ihr Gesicht wieder auflockert, »Aber das kann warten.«
Amaya schüttelt leicht schmunzelnd den Kopf über das Mädchen.
»Miena und Keith«, stellt sie ihr uns vor und deutet nacheinander auf Keith und mich. Vera winkt leicht ab. »Als wüsste ich das nicht schon«, entgegnet sie lächelnd und lässt dann einen Blick durch den Saal schweifen.
»Wie gefällts euch bis jetzt?«, fügt sie hinzu, während sie sich eine Gabel voll Salat in den Mund schiebt. »Es ist...viel. Aber beeindruckend«, erwidere ich und werfe einen kurzen Blick zu Keith, der zustimmend nickt, den Blick auf die Massen gerichtet, die noch immer in den Saal strömen.
Vera nickt nur leicht mit dem Kopf, ehe ihr etwas einzufallen scheint und sie sich enthusiastischer an uns wendet. »Stimmt es eigentlich, dass Fernseher draußen vollkommen selbstverständlich sind?«
Ihre Stimme ist so neugierig und bewundernd, dass ich nicht anders kann als zu lachen.
»So gut wie jeder Haushalt hat mindestens einen, ja«, erkläre ich belustigt und muss über ihr überraschtes Gesicht noch mehr lachen. »Bedeutet das manche haben auch zwei?«, hakt sie weiter vollkommen fasziniert nach und ich nicke grinsend. »Manchmal auch mehr.«
Vera sieht völlig baff zu Amaya, die nur schmunzelnd die Schultern hebt.
Keith und ich tauschen einen amüsierten Blick, ehe Vera uns bereits mit weiteren Fragen über die Außenwelt bombardiert.

Nach dem Essen bahnen wir uns satt unseren Weg zurück zur großen Halle, die nun nur noch von den Kronleuchtern hoch über unseren Köpfen beleuchtet wird.
Auf dem abgesenkten Platz tummeln sich ein mehrere Gruppen von Hexen und Hexern. Ich schätze er ist auch besonders abends ein beliebter Treffpunkt. Amaya läuft mit Vera vornweg und hört sich eine weitere Erzählung über Theo an, während Keith und ich den beiden gemächlicher und schweigend folgen.
Als wir gerade am Fuß der Treppe hinunter zum Platz ankommen tritt eine Bluthexe zu unserer Gruppe. »Keith, Miena«, wendet sie sich an uns und neigt kurz den Kopf, »Tharin Laena möchte euch sprechen, sie hat mich gebeten euch zu ihr zu bringen.«
Mein Blick wandert von der kleinen Frau zu Amaya, welche uns nur bestätigend zunickt.
Trotz ihrer Größe sind die Schritte der Hexe schnell und ich habe Mühe die Treppenstufen hinauf zum Podest genauso schnell zurückzulegen wie sie. Sie führt uns in den breiten Gang an dessen Ende der Saal liegt in dem vor ein paar Tagen das Totenritual für Alysanne stattfand. Wir halten jedoch bereits vor einer der zwei hohen Türen in der Mitte des Ganges. Die kleine Frau klopft und öffnet die Tür, als von drinnen ein gedämpftes »Herein« ertönt.
Die Marmorwände des Zimmers dahinter sind mit mehreren Karten und eingerahmten Schriften versehen. Tharin Laena sitzt hinter einem massiven Schreibtisch in der Mitte des Raumes und erhebt sich als wir eintreten mit einem Lächeln. Ein weiterer Hexer steht an den hohen Bücherregalen an der östlichen Wand des Raumes und wendet sich ebenfalls uns zu, die Hände vornehm auf dem Rücken gefaltet.
»Danke, Esme«, spricht Tharin Laena an die Frau gerichtet, die ein höfliches Nicken zurückgibt und dann den Raum verlässt, die Türen hinter sich schließend.
»Ich hoffe euch gefallen eure Zimmer«, nimmt erneut Laena zuerst das Wort auf, während sie den Tisch zwischen uns langsam umrundet.
»Sie sind noch etwas...leer«, antwortet Keith und die hochgewachsene Frau schmunzelt.
»Ihr werdet sie bald persönlicher gestalten können, keine Sorge«, erwidert sie, ihren Blick sanft auf uns gelegt. »Wie verläuft die Genesung deiner Verletzung?«, fragt sie dann an Keith gewandt, die Augen leicht über seine Schulter schweifen lassend.
»Langsam, aber vorwärts«, entgegnet dieser und sie nickt leicht.
»Erfreuliche Nachrichten«, bestätigt sie mit einem leichten Lächeln.
»Aber ich habe euch wegen etwas anderem herbringen lassen«, fährt sie dann fort und dreht sich leicht in Richtung des Mannes auf der anderen Seite des Raumes, »Möchtest du dich vorstellen?«
Der Mann nickt mit einem überraschend warmen Lächeln, das die Falten in seinem Gesicht vertieft und legt seine beinahe schwarzen Augen auf uns, während er ein paar Schritte näher kommt. »Mein Name ist Caius und ich werde bis zu eurer offiziellen Aufnahme euer Lehrer sein. Es freut mich zutiefst euch nach eurer langen Reise hier begrüßen zu können«, erklärt er mit einer besonders klangvollen, aber rauen Stimme, die von den glatten Wänden zurückgeworfen wird. Seine schwarzen kurzen Haare sind von einigen grauen Strähnen durchzogen, die in starkem Kontrast zu seiner dunklen Haut stehen.
»Eure Ausbildung wird übermorgen, Montag, beginnen. Zunächst allerdings nur mit Theorie, im Hinblick auf Keiths Verletzung«, erklärt Tharin Laena, während sie zurück zu ihrem Schreibtisch geht.
Sie will gerade weitersprechen, als ein seltsames, hallendes Geräusch von oben ertönt. Ich blicke misstrauisch nach oben zu der gewölbten Decke und merke erst, dass ich unterbewusst näher zu Keith getreten bin, als mein Arm seinen streift. Das Geräusch scheint näher zu kommen, auch wenn ich ihm keine Richtung zuordnen kann. Nur eine Millisekunde später schießt aus einer kaum sichtbaren Öffnung unter der Decke ein rotes Wirrwarr von Federn. Mein Mund bleibt offen stehen, als die zwei tiefroten, riesigen Vögel ihre Kreise unter der Deckenkuppel drehen. Trotz ihrer Größe verursachen sie mit ihren kraftvollen Flügelschlägen kaum ein Geräusch. Anmutig lassen sie sich auf einer von der Decke hängenden Eisenstange nieder.
»Das kann nicht sein«, murmelt Keith neben mir, genauso fasziniert wie ich.
Die Vögel legen die langen Flügel sorgfältig an ihre Rücken an. Ihre roten Federn glänzen im Licht des Kronleuchters und erinnern mich an glitzerndes Blut.
»Sie sind wunderschön, nicht?«, fragt Tharin Laena, den Kopf ebenfalls in den Nacken gelegt.
»Sind es wirklich...«
»Avalerion, ja«, beendet die Bluthexe Keiths Satz. Meine Augen liegen noch immer auf den elegant geformten Gestalten der Vögel. Es scheint als wäre jede Erhebung und jede Kurve ihres Körpers an der richtigen Stelle und als wäre jede Feder an ihrem Körper genau an dem Platz der für sie vorgesehen ist. Ihre Köpfe sind stolz angehoben, doch ihre dunklen Augen liegen neugierig auf uns.
»Was machen sie hier?«, fragt Keith und blickt zur Anführerin der Bluthexen hinüber.
»Sie haben mir ihre Treue geschworen, da ich ihnen vor einigen Jahren das Leben gerettet habe«, erklärt Tharin Laena und blickt zu den Tierwesen nach oben.
»Was sind sie?«, frage ich. Der Begriff Avalerion sagt mir nichts.
»Man könnte sie als Königspaar der Vögel bezeichnen. Alle Vögel scheinen ihnen zu gehorchen. Es existieren zu jedem Zeitpunkt lediglich zwei von ihnen. Nach 60 Jahren legt das Weibchen zwei Eier und sobald die Jungtiere nach 60 Tagen schlüpfen, ertränken sich ihre Eltern im Meer«, erzählt Caius, die Hände hinter dem Rücken gefaltet.
»Sie sind wunderschön«, murmele ich und hab das Gefühl ein stolzes Glitzern in ihren tiefschwarzen Augen zu sehen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie auch Keiths Augen noch immer auf den Vögeln liegen, dann wendet er den Blick allerdings zu Tharin Laena.
»War das alles was es zu besprechen gab?«, fragt er und ich bin für einen Moment verwundert über die ungeduldige Frage, doch meine Verwunderung löst sich auf, als ich die hängende Haltung seiner Schulter bemerke.
Die Tharin überlegt einen Moment, nickt dann aber allerdings.
»Kommt Montag nach dem Frühstück zur großen Halle, ich werde dort auf euch warten«, weißt uns Caius an.
»Und wenn ihr Fragen oder irgendwelche Probleme habt steht meine Tür immer offen«, bietet Tharin Laena uns ihre Hilfe an und wir neigen höflich den Kopf.
»Ich wünsche euch eine erholsame Nacht«, verabschiedet sich auch Caius von uns und wir erwidern es, ehe wir den Raum verlassen.
Sobald sich die Tür hinter uns schließt atme ich durch. Tharin Laenas Autorität hat noch immer eine einschüchternde Wirkung trotz ihrer warmen Art.
Keith dreht sich zurück in Richtung der großen Halle und setzt sich in Bewegung.
»Weißt du noch wo unsere Zimmer sind?«
Über die unerwartete und trockene Frage muss ich überraschend laut lachen.
»Nein«, erwidere ich lachend, während ich ihm den Gang entlang folge.
Es ist das erste Mal, dass wir uns allein durch Dysia bewegen und als wir am Geländer des hohen Vorsprungs ankommen und kurz nur stumm die Bluthexen und -hexer beobachten, die sich auf dem Platz tummeln, durchströmt mich ein warmes und irgendwie beruhigendes Gefühl. Vielleicht könnte ich mich daran gewöhnen.

Letztendlich finden wir den Weg zu unseren Zimmern doch noch wieder und ich verabschiede Keith bei seinem, um weiter den Gang hinunter zum letzten Zimmer zu gehen.
Die Tür ist wie zuvor auch unverschlossen und ich betrete den Raum leise. Innen fällt mir ein Schloss auf, mit dem ich kurzerhand abschließe, auch wenn ich nicht weiß, ob es notwendig ist.
Als ich mich zurück zum Zimmer drehe, lasse ich meinen Blick über die Möbel und die glatten Wände streifen. Der Stein isoliert alle Geräusche von außen, weswegen eine beinahe gespenstische Stille herrscht. Einen kurzen Moment weiß ich nichts mit mir anzufangen, dann entdecke ich die Schlafsachen, die mir jemand aufs Bett gelegt hat und beschließe mich erst einmal fertig zu machen. Zum Glück wurde auch an Zahnputz-Sachen gedacht, sodass ich mir die Zähne putzen und schließlich die einfachen Schlafsachen überwerfen kann.
Zurück im Zimmer stehe ich erneut für einige Sekunden einfach nur da und betrachte den Raum.
Erst jetzt spüre ich eine schwache Verbundenheit zu Cassana, während mir klar wird, dass ich dort stehe, wo sie vermutlich unzählige Male stand, die gleichen Dinge betrachte, die sie so oft betrachtet hat, dass sie all ihre Details auswendig kannte. Dass ich in dem Raum stehe, den sie vermutlich als Zuhause empfand.
Ein unwohles Gefühl kriecht meine Wirbelsäule hinauf und ich fühle mich, als würde ich in ihre Privatsphäre eindringen, so als würde mir das Recht auf das Zimmer nicht zustehen. Besonders der Blick auf das Bett ist seltsam intim. Als langsam die Kälte des Marmorbodens in meine bloßen Füße dringt schüttele ich jedoch nur den Kopf über mich und gehe zum Bett hinüber, um mich hineinzuschieben. Das Laken und die Bettwäsche sind kühl und ich kuschele mich hinein, um die Kälte zu vertreiben. Dann strecke ich den Arm aus, um die Petroleumlampe auszumachen, doch meine Fingerspitzen verharren vor dem Glasgehäuse.
Schließlich ziehe ich die Hand wieder zurück und drehe mich auf die andere Seite.
Doch auch das Licht kann die Alpträume nicht zurückhalten.

Die Bluthexen II - Denn Blut ist schönWo Geschichten leben. Entdecke jetzt