4. Kapitel

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Er

"157, 158, 159...", ich sah hinunter. Kein Zurück, kein Ausweg, keine Chance zu fliehen.
"160".
Mein Vater wohnte in einem hohen Mehrfamilienhaus. Die Begründung warum ich die Treppen nahm war, dass der Aufzug so stank. Aber eigentlich hatte ich nur Schiss davor meinen Vater wieder zu sehen.
Acht Monate und drei Wochen war ich jetzt nicht mehr hier gewesen und doch fühlte sich alles so vertraut an... Ich wollte es nur nicht wahr haben.
Steuerhinterziehung.
Dass er aus der Nummer noch gerade so raus gekommen war... ein wahres Wunder!
Aber Bruno, Ma und mir hatte es trotzdem alles versaut.
Wir lebten jetzt nicht mehr mit Pa zusammen hier, sondern auf einem kleinen Boot, mit dem wir hin und wieder einfach abhauten, wann es uns passte.
Ma hatte nämlich manchmal kleine Aussetzer gesunden Menschenverstands und trieb es dann in jedem beliebigen Staat mit jedem dahergelaufenen Arschloch. Mich hatte es am Anfang total fertig gemacht, aber es klang schlimmer als es war.
Sie kam nicht über die Scheidung hinweg.
Sie hatte schließlich ihren Ehemann verloren und ich meinen Vater. Und Bruno hatte alles verloren...
"Jetzt mach doch endlich", flüsterte ich ungeduldig zu mir selber, aber gleichzeitig starrte ich wie benommen auf die Klingel. Meine Hände schwitzten und der Brief fiel fast zu Boden.
'Aus dir wird nie ein richtiger Mann, wenn du deine Angst nicht in die Hände nimmst und ihr den Hals umdrehst', wisperte mir eine altbekannte Stimme zu. Mein Vater. Er hatte in mir nie mehr gesehen, als seinen kleinen
schwächlichen Sohn. Ich entsprach nie seinen Anforderungen, denn ich war in seinen Augen schon immer ängstlicher als andere, immer kleiner als andere und nie mutig genug, um mich zu behaupten.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Ich hatte mich geändert. Ich war zwar erst sechzehn, aber hatte in den letzten Monaten gelernt klar zu kommen und vor allem sich zu verteidigen. Sein kleiner Tiger war ich schon lang nicht mehr, wie er mich immer genannt hatte, um mich aufzuziehen.
Ich war jetzt ein Löwe!
Voller Entschlossenheit klingelte ich und hörte Schritte aus dem Wohnzimmer tapsen.
Die Tür öffnete sich mit einem Knartschen. Früher hatte ich sie immer geölt...
Er stand vor mir in einem braunen Morgenmantel und seinen Pantoffeln. Es waren mal meine gewesen, er hatte sie mir geschenkt. Ich hatte sie nicht mitgenommen, als wir auszogen.
Es waren Tiger darauf gestickt.
"Sohn."
Ich schaute auf und wischte mir verstohlen durchs Gesicht. Er durfte es einfach nicht gesehen haben. Das war es nicht wert.
"Vater".
Jetzt musterte er mich ebenfalls. Ich hatte nur meinen Lieblingssweater an und vielleicht noch ein bisschen Dreck im Gesicht, da ich heute morgen das Deck gesäubert hatte.
"Das ist ja....", er suchte vergeblich nach den richtigen Worten für meinen Besuch.
....überraschend!"
Was ich sah konnte ich einfach nicht beschreiben. Dieser Mann war mal mein Vater gewesen. Der selbe Mann, der jetzt vor mir stand und mit seinem Stoppelbart und seinen müden Augen aussah wie ein Penner.
Bestimmt Alkohol. Bestimmt.
Aus der Wohnung kam ein Geruch, der wie eine Mischung aus Müllhalde und Verwesung stank und auch die Alkoholfahne meines Vaters hing zwischen uns in der Luft.
Er machte mir Angst. Wie krank ist das denn?? Ich hatte gegen Hulligans und Obdachlose, gegen wütende Hafenbesitzer und die Polizei gekämpft, aber all das war nichts im Gegensatz zu meinem Vater.
Ihn so zu sehen nahm wieder einen Teil von mir, von dem ich geglaubt hatte, ihn schon längst verloren zu haben. Ich musterte ihn einige Minuten länger, als angenehm gewesen wäre, und so räusperte er sich.
"Komm doch rein, Leon."
Mit einer einladenden Handbewegung forderte er mich auf, mein altes Zuhause zu betreten. Das Treppenhaus und die ganze Umgebung allein hatten schon gereicht, dass ich fast alles abgebrochen und die Aktion auf morgen verschoben hätte. Es war nur ein Türrahmen... nur ein halber Meter über die Kante der Haustür. Doch ich konnte es nicht.
"Nein", sagte ich und sah zu Boden. Jedoch fiel mir im selben Augenblick ein, dass das vielleicht schwächlich wirken könnte, also hob ich den Kopf und sah ihm in die Augen. Fest. Willensstark. Ich ballte meine Fäuste.
"Wie du meinst, Kleiner."
Ein kleines Zucken um die Mundwinkel... mehr war da nicht, aber ich fühlte mich trotzdem verspottet. Ausgelacht von jemandem, dessen Meinung mir schon immer wichtig gewesen war.
Es hatte sich nichts verändert und es machte mich wütend. Ich konnte nicht sprechen und auch das machte mich auch wütend. Keine Ahnung was das für Gefühle in mir waren, aber ich konnte einfach nicht reden, ich brachte kein einziges Wort heraus. War vielleicht auch besser so, weil das Risiko wäre zu hoch gewesen, dass ich bei meinen eigenen Worten anfing zu flennen. Das wäre extrem peinlich geworden!
Ich drückte ihm den Brief in die Hand, während ich genau merkte wie sehr meine eigene Hand zitterte. Auf dem Brief waren Name und Anschrift geschrieben:
Castor, Daniel ; Prisonsteet 67.
Daniel machte sich nicht die Mühe den Brief ordentlich zu öffnen und der Umschlag landete zerrissen auf dem Boden. Ich wusste so ungefähr was drin stand. Was sollte es auch sein? Eine hübsche Postkarte war es ja offensichtlich nicht!
Er runzelte beim Lesen mehrmals besorgt die Stirn und bewegte seinen Mund zu den Worten die er las. Das hatte er selbst früher schon immer gemacht. Als er fertig war, sah er fertig aus. Er brauchte nichts zu sagen... ich sah wie verletzt er war. Doch die einzige Empfindung die er mir gegenüber äußerte war Wut. Blankes Entsetzen wandelte sich in einen Tobsuchts-Anfall. Er fing an zu schreien, er brüllte und pöbelte mich an, wie ich ihm das antun könne, auch wenn ich genau genommen nichts dafür konnte. Meine Mutter hatte schließlich den leichtgläubigen Notar ein bisschen bezirzt, damit er hier und da mal ein wenig über die Gesetzte hinweg sah. Der Notar, Dr. Steve Moogle, war ein Kleinstadtbeamter, so würde niemand auf ihn achten. Mein Vater trat gegen die Tür und seine Schreie hallten im ganzen Treppenhaus wieder. Er baute sich vor mir auf und spuckte mir ins Gesicht. Ich ließ es zu, da jeglicher Widerstand es nur schlimmer gemacht hätte. Gegen seinen Alkohol-Intus kam ich nicht an. Er sah mir in die Augen, voller Unverständnis und Hass.
"Wie konntest du nur?", waren seine letzten Worte bevor er mir mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Die Schelle saß tief und meine Wange brannte wie Feuer, aber der Schmerz in mir drin saß viel tiefer. Was war eine physische Verletzung, wenn man gerade seinen Vater verlor?
Daniel starrte auf seine Hand und blickte wieder auf. Die rote Flüssigkeit lief mein Gesicht herunter und tropfte meinen Lieblingssweater voll, doch auch der hatte jetzt keinerlei Bedeutung mehr. Dies war der Mann, der einmal mein Vater gewesen war. Ich hatte diesen Mann einmal geliebt. Genau der Mann, der sich jetzt einfach umdrehte, jedoch nicht schnell genug, als dass ich nicht die Träne gesehen hätte, die seine Wange herunter lief. Er drehte mir den Rücken zu, atmete kurz durch und ging in seine Wohnung zurück. Ich rechnete damit, dass er mir die Tür vor der Nase zustieß, aber das tat er nicht. Er ließ sie sperrangelweit offen. Trotz allem ließ er mir die Möglichkeit zu ihm zurück zu kommen. Wie ein kleiner Junge, der wieder in seinem Schoß Schutz suchte. Wie es immer war. "Mein Tiger", murmelte er noch. Die Tür stand mir offen. Ein Schritt und ich wäre bei ihm. Ein Schritt und ich würde die Wände durchbrechen. Ein Schritt und es wäre wie früher... Ich riskierte einen Blick, der Weg lag vor mir, kurz aber beschwerlich. Eine Familie zusammen mit Ma und Bruno. Alle zusammen, wie damals. Doch Bruno war... Nein, ich konnte das nicht machen und ich würde nicht!
Diese Option war in Wirklichkeit nicht mehr existent. Ich fasste mir an die blutige Wange und schloss leise die Haustür.
"Nein, kein Tiger Papa", flüsterte ich. "Ein Löwe."


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 28, 2019 ⏰

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