Kapitel 2

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Ein mir fremder Junge kommt gerade um die Ecke in meine Richtung. Ich erstarre vor Schreck - oder doch eher vor Scham weil ich gerade auf der Treppe ausgerutscht bin? - und merke wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Der Junge schaut mich ein wenig amüsiert an, aber da ist noch etwas anderes in seinen Augen. War es Mitgefühl? Wenn ja, wofür? Hatte er etwa meinen Sturz mitbekommen? "Ist bei dir alles okay? Das mit dem Handgelenk sah schmerzhaft aus.", fragt er mich. "Klar, halb so wild. Ich bin nur ein wenig tollpatschig.", antworte ich hastig. Er steht jetzt ungefähr zwei Meter vor mir und ich mustere ihn ein wenig. Der Typ trägt eine schwarze Ripped-Jeans und einen schlichten schwarzen Pulli mit dem weißen Vans-Logo darauf. Dazu passend natürlich schwarz-weiße Old School Vans. Er ist schlank aber sportlich, einen knappen Kopf größer als ich und hat dunkelblonde, hochgestylte Haare. Winzig kleine Sommersprossen bedecken seine Wangen und seinen Nasenrücken. Sein Gesicht ist etwas rundlich und dennoch stechen seine Kiefer- und Wangenknochen ein wenig hervor. Seine dunklen blauen Augen beobachten mich wachsam. Bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass sie einen hellblauen, fast nicht sichtbaren Kranz um die Pupille besitzen. Ich merke das ich anfange zu starren und schaue an mir selbst herunter. Dunkelblaue Skinny-Jeans, weißer Converse All Stars Pulli und meine heiß geliebten Converse Chucks in weiß. "Caleb, wo bleibst du denn? Wir wollten doch das Experiment planen!", ruft ein anderer Junge aus einer meiner Parallelklassen aus einem der Chemieräume. "Ich komme!", ruft der Typ vor mir zurück. "Ich muss los. Man sieht sich?", meint er dann in meine Richtung. Ich nicke nur, richte mich gerade auf und verschwinde dann, ohne den Typen, der augenscheinlich Caleb heißt, noch einmal anzusehen in meinem Unterricht.

Um 14 Uhr endet dann mein Schultag nach einer trockenen Doppelstunde Politik und ich nehme den Bus nach Hause. Mein Handgelenk ist in der Zwischenzeit immer weiter angeschwollen und schmerzt bei jeder Bewegung. Vermutlich geprellt. Das kenne ich schon von ein paar kleinen Reitunfällen bei denen ich etwas unsanft und unfreiwillig vom Pony abgestiegen bin. Zuhause laufe ich direkt in den Stall und begrüße meine Ponys um danach nach meiner Mutter zu suchen. Sie ist gerade dabei ein paar Sprünge in der Reithalle aufzubauen. "Hi Mum, ich bin wieder da!", rufe ich ihr von der Bande aus zu. "Hi Schatz, könntest du mir beim aufbauen helfen? Die ersten Reitschüler kommen gleich und ich bin noch nicht ganz fertig", bittet sie mich. Ich lege schnell meine Tasche auf eine der Bänke der Tribüne und schnappe mir eine der schweren Holzstangen, um sie auf einem der Sprungständer zu platzieren. Sofort zieht wieder ein stechender Schmerz durch mein rechtes Handgelenk und ich verziehe das Gesicht, trage die Stange jedoch weiter. Wow, das war ja mal richtig intelligent. Schweig, dumme innere Stimme in meinem Gehirn.  Den Schmerz - und meine nervende innere Stimme - ignoriere ich einfach und schleppe im Eiltempo weitere Stangen hin und her. Meine Mum und ich sind ein eingespieltes Team im Stall und schnell fertig mit unserem Werk. "Ich kümmere mich dann mal um meine Schüler. Möchtest du heute in der zweiten Stunde mit reiten? Miana ist schließlich krank und ich hatte vor mit den Fortgeschrittenen ein wenig gymnastizierende Sprünge zu machen. Mit den Kleineren mache ich dann ein wenig Stangenarbeit und vielleicht einen Geschicklichkeitsparcours  um die Sprünge.", fragt meine Mum. "Klaro, ich gehe nur kurz rein etwas essen und mich umziehen. Dann bin ich in etwa in einer dreiviertel Stunde wieder da.", willige ich ein und mache mich mit meiner Tasche über der Schulter auf den Weg nach drinnen. In der warmen Küche duftet es wie immer nach dem Essen meiner Oma. "Hi Omi, das riecht ja mal wieder köstlich. Was gibt es denn leckeres zum Essen?" Mein lautes Magenknurren verdeutlicht meine Aussage. "Erst Hände waschen, dann gibt es das Essen." Also flitze ich ins Bad, wasche meine Hände und kehre in die Küche zurück. Auf meinem Platz steht ein Teller mit herrlich duftender Gemüse-Nudelsuppe. Mit einem Heißhunger lasse ich mich auf der Küchenbank nieder und inhaliere den Geruch dieser wunderbaren Mahlzeit. Dann nehme ich einen Löffel voll und genieße das Gefühl von warmer Suppe in meinem leeren Magen. Du bist verfressen. Ach und du nicht? Immerhin bist du meine innere Stimme, also gehörst du zu mir. Stimmt. Aber ich bin immernoch der intelligentere Teil von uns beiden. Mag sein, aber jetzt sei still und lass mich meine Suppe genießen. Meine Güte, ich muss echt ganz schön verrückt sein um mit meiner inneren Stimme zu diskutieren. Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen?  Ja,vielleicht sollte ich das. "Schmeckt es dir Schätzchen?", holt mich meine Oma zurück in die Realität. "Total, es schmeckt himmlisch. Danke.", lobe ich ihre Kochkünste. "Das freut mich." Nach einer zweiten Portion der leckeren Suppe mache ich mich auf in mein Zimmer. Dort packe ich schonmal meine Schulsachen auf meinen Schreibtisch, auch wenn ich die Hausaufgaben erst heute Abend machen werde. Aus meinem Kleiderschrank fische ich eine frisch gewaschene marine farbene Reithose,  einen dazu passenden Base Layer und Reitsocken. Ich öffne meinen Zopf, kämme mir die von draußen zerzausten Haare gut durch und mache mir einen neuen Zopf, der aber weiter unten sitzt damit er nicht unter dem Helm stört. Während ich die Treppe runtergehe ziehe ich mir noch meine schön warme gefütterte Reitjacke über und schlüpfe unten in meine Stallschuhe. Meine Reitstunde beginnt erst um 16 Uhr und da es erst 15:20 ist habe ich noch genug Zeit um Myra in Ruhe fertig zu machen. Ich suche also Springsattel, Trense, Martingal und Gamaschen zusammen und lege sie am Putzplatz bereit. Mit einem Leckerli in der Jackentasche betrete ich Myras Box und halftere sie auf. Myra riecht das Leckerli in meiner Jackentasche sofort und fängt an zu betteln. Ich lasse sie ein zwei Tricks wie Küsschen und Smile machen und belohne sie mit ihrem Leckerli. Am Anbinder angekommen nehme ich ihr ihre Stalldecke ab. Myra ist zwar nicht geschoren, aber ein mindestens genauso großes Frostköttelchen wie ich und trägt deswegen eine Decke mit einem dünnen Flieceanteil. Beim Putzen lasse ich mir dann richtig Zeit und genieße den ruhigen Augenblick mit meinem Pony. Auch Myra ist total entspannt. Währenddessen lasse ich den Schultag noch einmal Revue passieren. Deine Aktion auf der Treppe vor den Chemieräumen wäre nun wirklich nicht nötig gewesen. Ach wirklich? Wenn du so intelligent bist, warum hast du dann nicht aufgepasst? Nun ja... Immerhin hast du diesen süßen Typen kennengelernt. Also unter kennenlernen verstehe ich ja etwas anderes. Und sooo süß war der jetzt auch wieder nicht. Lüg dir nur selber etwas vor, ich weiß ja eh dass du ihn mochtest. Schließlich bin ich... Die Klügere von uns beiden, hab schon verstanden. Schnell fange ich an Myra zu satteln um nicht wieder in eine Diskussion mit meiner inneren Stimme zu kommen.

10 Minuten vor Unterrichtsbeginn betrete ich mit Myra zusammen die Halle, nachdem ich fertig gesattelt, mir meine Reitstiefel und meinen Helm angezogen habe. Ich gurte nach, steige auf und beginne mit den Schrittrunden zum Aufwärmen von Myras Muskeln und Gelenken. Mittlerweile sind die Kinder der ersten Reitstunde wieder abgeholt worden und die Schüler meiner heutigen Gruppe bereiten sich so wie ich auf den Unterricht vor. Da Mini fehlt sind wir heute nur zu dritt. Um punkt 16 Uhr erscheint meine Mutter mit einem heißen Getränk in ihrem Becher wieder in der Reithalle und der Unterricht beginnt. Nach dem Aufwärmen in allen drei Grundgangarten fangen wir mit den ersten Trabstangen und kleinen Sprüngen an. Schon bald merke ich, dass Myra heute sehr aufgebracht ist und alles Mögliche gruselig findet. Und wenn es auch nur ihr eigener Schatten, eine sich leicht im Wind bewegende, verstaubte Spinnwebe in der einen Ecke der Halle ist oder die alten Stangen, die sie schon zig tausende von Malen gesehen hat. Ich versuche also ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und lasse sie zuerst einmal über die Trabstangen laufen. Dann geht es über das kleine Kreuz und nach einem Zirkel über das niedrige In-Out. Da Myra aber so unkonzentriert ist passt der Abstand zum zweiten Sprung nicht und sie muss verfrüht abspringen. Ich versuche rechtzeitig mit der Bewegung mitzugehen um sie nicht zusätzlich in ihrer Balance zu stören. Zwar werde ich bei ihrem riesen Satz auf ihren Hals katapultiert, kann mich aber noch oben halten. Myra findet mein Gewicht auf ihrem Hals scheinbar sehr unangenehm und buckelt einmal, wodurch ich meinen linken Steigbügel verliere. Verkrampft versuche ich, mich oben zu halten, doch dass mein sonst so entspanntes Pony jetzt auch noch losrast macht es nicht wirklich einfacher. Als ich sie endlich gebremst bekomme hänge ich nur noch seitlich an ihr. Ich ziehe mich mit letzter Kraft wieder hoch - schmerzhafte Angelegenheit mit meinem sowieso schon lädierten Handgelenk - und nehme Zügel und Steigbügel wieder auf. Erst jetzt fällt mir auf wie ruhig es in der Reithalle geworden ist und das mich alle anschauen. "Alles gut, nichts passiert.", beschwichtige ich sie, nachdem ich auch den besorgten Blick meiner Mum bemerke. "Das war ganz schön knapp. Wenn du dich wieder gesammelt hast solltest du es nochmal probieren, damit Myra das In-Out positiv abspeichern kann." Ich nicke, atme einmal tief ein und aus und lasse Myra aus dem Schritt angaloppieren. Nach einem Zirkel versuchen wir das In-Out erneut. Diesmal sind Myra und ich vollkommen mit der Konzentration beieinander und die Distanz zu den Sprüngen passt perfekt. Auch meine Mutter ist sehr zufrieden mit uns. "Ich denke das reicht dann für heute ihr zwei. Okay, wer möchte als nächstes?", wendet sie sich dann den anderen zwei Schülern meiner Gruppe zu.

Ich reite Myra noch ein paar Runden Schritt, packe ihr dann die Abschwitzdecke drauf und verlasse mit ihr die Reithalle um die anderen nicht zu stören. Nachdem ich sie abgesattelt und noch einmal übergeputzt habe stelle ich sie unter das Solarium, damit sich ihre verspannten Muskeln entspannen können. Gerade habe ich ihr Sattelzeug in der Sattelkammer verstaut, meine Reitstiefel wieder gegen meine warmen, gefütterten Stallschuhe eingetauscht und bereite Myras Belohnungsfutter vor, da höre ich wie jemand den Stall betritt. Es sind eine weibliche und eine männliche Stimme zu hören, aber sie unterhalten sich nicht auf Deutsch sondern auf Englisch, was mich im ersten Moment irritiert. Doch dann verstehe ich ein paar Wortfetzen, die in die Futterkammer zu mir hinüberwehen. Die weibliche Stimme sagt etwas von 'Du wirst sie mögen' und 'eine ganz tolle Reiterin'. Die Stimmen und Schritte werden leiser und ich höre die Tür zur Reithalle sich öffnen und wieder schließen. Meine Neugierde ist geweckt und ich beeile mich Myra wieder einzudecken, ihr ihre Belohnung zu geben und sie in ihre Box zu bringen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir dass es schon 16:38 Uhr ist, was bedeutet dass die Reitstunde gleich zu ende sein wird und die nächste und letzte Stunde für diesen Tag starten wird. Ich öffne möglichst leise die Tür zur Reithalle und entdecke zwei Personen an der Bande. Eine Frau, noch relativ jung mit hellblonden langen Haaren. Neben ihr steht ein Junge - soweit man das von hinten sagen kann - mit dunkelblonden, hochgestylten Haaren. Die Beiden unterhalten sich mit meiner Mum, die in einer Ecke der Reithalle steht und nebenbei ihren Reitschülern die Anweisung erteilt, die Pferde trocken zu reiten. Sie scheint mich bemerkt zu haben und ruft mich lächelnd zu sich. "Da kommt sie ja schon. Das ist meine älteste Tochter, Hailey.", stellt sie mich vor, bevor ich sie überhaupt erreicht habe. Als sich die beiden Personen zu mir umdrehen und ich ihre Gesichter sehe, kommt mir eines der beiden Gesichter irgendwie bekannt vor.


Kapitel zwei ist jetzt auch fertig. Ich denke alle Kapitel werden ungefähr diese Länge haben, aber ich verspreche lieber nichts, was ich dann doch nicht einhalten kann... Jedenfalls hoffe ich, dass es euch gefällt. Bis zum nächsten Mal.

🌌~ galaxygirl ~🌌

Auf der Flucht vor der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt