Call me Doctor Ahn

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Jaehyo POV


Ein erwachsener Mensch besaß ca. 5–6 Liter Blut, Männer haben im Durchschnitt etwa 1 Liter mehr Blut als Frauen, was vor allem an der Größe und den Gewichtsunterschieden liegt. Blut bestand aus 44 Prozent Hämatokrit und 55 Prozent Plasma. Und doch war es eine hundertprozentige Sauerei, wenn es aus einer punktierten Ader durch den ganzen Raum spritzte. Und das alles nur, weil ich mitten in einer OP einen Anruf von Light bekommen hatte. Vor Schock was er mir erzählte, hatte ich aus Versehen die Herzkranzarterie eines Patienten punktiert. Das Blut kam wie in einer Fontäne herausgeschossen, landete in meinem Gesicht und hatte sich mit dem Schweiß auf meiner Stirn vermischt. Eine Operation am offenen Herzen war äußerst riskant und brachte große Komplikationen mit sich, wenn man etwas falsch machte, denn genau in diesem Moment fingen die Monitore an zu piepsen. Wie ich dieses Geräusch hasste. Dieses ohrenbetäubende Geräusch, bei dem man dachte, an einem Tinnitus zu leiden. „Doktor Ahn", die Anästhesistin sogleich. „Blutdruck bei 70 zu 40." Ich musste schnell handeln, sonst würde der Patient auf dem OP-Tisch noch verbluten. Ein Nicken. Mehr brauchte es nicht um den Assistenzarzt und den Schwestern zu sagen, was Sache ist. „Blutung stoppen, alle bereit?"


Etwa eine Dreiviertelstunde später war der erste und wichtigste Teil der Behandlung vollzogen. Das Leben des Patienten war gerettet, jedoch musste ich unter dringenden Umständen, die Operation abbrechen und auf den nächsten Tag verschieben. Ich trug keine Latexhandschuhe mehr, keinen Mundschutz, weder noch eine OP-Haube, noch den grünen Wegwerfkittel, den man wie eine Zwangsjacke auf dem Rücken zubinden musste. Ein Blick auf die Uhr verriet mir das es sechzehn Uhr zwölf war; ich musste mich beeilen. Ausgerechnet heute hatte ich auch noch Bereitschaftsdienst. Schlimmer konnte es ja nicht mehr werden. Aber wenn Light schon so panisch anruft, dann musste es etwas Wichtiges sein. Normalerweise rief er sonst nicht an. So eilte ich das Treppenhaus hinunter, begab mich auf Station und in mein Arztzimmer. Umziehen würde jetzt nur unnötig Zeit kosten, daher musste eine Jacke reichen. So schnell wie ich gekommen war, so schnell war ich auch schon wieder verschwunden. Natürlich hatte ich das Telefon dabei, für den Notfall. Immerhin war ich für die kompletten Inneren Stationen verantwortlich. Als ich durch den Haupteingang marschierte und nach draußen gelangte, preschte der Wind mir ins Gesicht. Für diese Uhrzeit war es wirklich kalt und windig. Die Wolken zogen sich zusammen. Es gab heute Regen.


So kam es, wie es kommen musste, etwa eine Stunde später stand ich bei Hope vor der Haustür, unterwegs hatte ich noch einmal Light angerufen und mir genau erklären, wo das Problem lag. Frustriert hatte ich am Telefon geseufzt. Hope litt eindeutig an einer Amnesie. Allerdings musste ich mir genau anhören, was passiert war und an was sich Hope überhaupt erinnern konnte. Ich fummelte den Schlüssel für Hopes Wohnung aus meiner Jackentasche bevor ich diese aufschloss und eintrat. „Wo ist er?", rief ich laut genug, damit sie hörten, dass ich da war. Ich wartete einen Moment, da kam auch schon Light um die Ecke. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien es ihn doch etwas mitzunehmen, was passiert war, oder vielleicht war es auch einfach die Tatsache das Hope sich nicht an ihn erinnerte. „Scheint ja ziemlich schlimm zu sein, wenn du mich schon so anschaust, als hätte man dir dein Spielzeug weggenommen.", sachte klopfte ich auf Lights Schulter. „Na dann gehen wir doch mal zu ihm, hm?"

Keine fünf Minuten später saßen wir also zu dritt auf der Couch im Wohnzimmer, wobei ich mit von Light noch einmal anhörte, was genau passiert war. Erst dann wandte ich mich an Hope. „Okay ... und jetzt erzähl du mir mal, an was du dich erinnerst." Gespannt wartete ich darauf, was er mir erzählen würde. „Wieso muss ich das jetzt noch mal erzählen? Wie oft denn noch? Light meinte, dass ich wohl geträumt habe, an was ich mich erinnere, ich kann mich nur an diesen Traum erinnern, wenn man das als Traum bezeichnen kann. Sonst an rein gar nichts. Wirklich nichts", fasste es Hope kurz, wobei ich diesen nachdenklich anschaute. „Rein gar nichts?", erkundigte ich mich dann doch noch einmal bei ihm. „Habe ich doch schon gesagt, gar nichts. Ich habe keine Ahnung, ich kenne nur Lights Gesicht, ich wusste nicht einmal, wie er hieß, ich dachte, sein Name sei Kyung, denn in meinem Traum sah Light so aus, aber hieß Kyung."
Skeptisch sah ich den schwarzhaarigen an, so wie er das erzählte, klang mir das stark nach einer Amnesie. „Und du sagst... er lag auf dem Boden, bewusstlos?"
Light nickte sachte, senkte nun selber etwas den Kopf. „Light...? Kann ich dich kurz mal sprechen? Allein.", langsam stand ich auf, sah Hope aber entschuldigend an. Ich musste das erst einmal mit Light besprechen, bevor Hope etwas davon erfuhr.

 Das könnte die ganze Situation sonst noch viel schlimmer machen. „Selbstverständlich.", war die Aussage des braunhaarigen, bevor er mir in die Küche folgte. Sofort verschränkte ich die Arme, deutete Light aber an, die Tür zu schließen, was dieser auch tat. „Und... was denkst du dazu?", fragte er mich sofort, weshalb ich leise seufzte. „Es klingt mir stark nach einer Amnesie. Vielleicht ist er dir die Treppe hoch gefolgt und dann gefallen. Gehirnerschütterung, aber es könnte auch eine andere Krankheit der Auslöser dafür sein. Aber das müsste man erst einmal herausfinden", sprach ich in einem ruhigen Ton, wobei ich sehen konnte, wie geschockt Light darüber war. „Aber so viel? Also wirklich alles?"
„Ich weiß, dass mag blöd klingen. Aber eine Amnesie kann durch verschiedene Dinge ausgelöst werden. Meistens durch Gehirnerschütterungen oder durch ein Schädel-Hirn-Trauma. Eine Amnesie hat verschiedenste Formen, es gibt eine Retrograde Amnesie, bei der man vergisst, was vor dem Geschehen passiert ist, dann gibt es eine Anterograde Amnesie, die bezieht sich jedoch darauf, dass die Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte massiv reduziert sind – sprich das, was man sieht, lernt, tut oder passiert, vergisst man in wenigen Sekunden wieder. Bei den meisten Unfällen, die mit einem Schädel-Hirn-Trauma einhergehen, kann es auch dazu kommen, dass diese beiden Formen miteinander kombinieren, was es schwer macht, da eine gute und passende Behandlung zu finden", erzählte ich ihm daraufhin nur, atmete jedoch einmal tief durch. „Es gibt noch einige Formen der Amnesie. Aber bei Hope", ich brach ab, mir fiel es selber schwer, es überhaupt über meine Lippen zu bringen. „Es kann gut sein, dass es sich bei ihm um eine globale Amnesie handelt."
Sofort sah ich zu Light, der etwas verwirrt schien. Mir blieb wohl keine andere Wahl, als ihn darüber aufzuklären. „Eine globale Amnesie, ist die schwerste Amnesie, die man haben kann. Menschen die an einer globalen Amnesie leiden, können Erinnerungen die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen, nicht mehr abrufen. Darunter zählen solche Dinge wie Erlebnisse, Ereignisse, Erfahrungen – gleichzeitig jedoch, können Menschen auch nichts mehr lernen. Aber scheinbar scheint das nicht ganz der Fall bei Hope zu sein. Schließlich kann er sich deinen Namen merken und das was er geträumt hat. Sollte es dabeibleiben, dass er sich nur deinen Namen oder die Namen anderer merkt, dann können wir sicher sein, dass er unter dieser Form der Amnesie leidet... die Prognose dafür sieht leider sehr schlecht aus. Man kann eine globale Amnesie nicht heilen", erzählte ich ihm meine Theorie.
„Das heißt... es könnte sein das Hope sich nie wieder an das erinnert, was davor war und auch keine neuen Erinnerungen speichert? Dass er für immer auf diesem Stand bliebt?" Schwach nickte ich, mir tat es unfassbar leid. Light war gerade mal ein Jahr mit Hope zusammen und dann passierte so etwas. „Und was ist... wenn er sich an etwas erinnert oder sich an neue Ereignisse erinnert, was ist dann?"
„Sollte das er Fall sein, dann können wir sagen, dass es keine globale Amnesie ist und es sich wirklich nur um eine retrograde Amnesie handelt, auch wenn der Zeitraum, für der Vergessen an Erinnerungen wirklich viel ist, meistens erinnert man sich wenigstens an Ereignisse, die weit vor dem Unfall waren. Sprich der Kindheit. Das heißt uns bleibt gar nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu schauen, wie es sich entwickelt."

Das musste sicherlich schrecklich Klingen. Solch eine Nachricht zu erhalten und dann machtlos zu sein, irgendetwas zu machen oder gar zu helfen. „Das Beste ist es, wenn du dich so verhältst wie immer. Außerdem, ich weiß nicht, ob es so gut ist, es ihm überhaupt zu sagen, das könnte sie Sache noch viel schlimmer machen."
Frustriert schien sich Light durch die Haare zu streichen. „So ein Scheiß", stieß dieser genauso frustriert aus. „Okay, dann sagen wir ihm n...", weiter kam der braunhaarige nicht, da ging die Tür hinter ihm auch schon prompt auf. „Müsst ihr nicht. Ich habe alles gehört. Du vermutest also, dass ich an einer Amnesie leide?"
Klasse. Das hatte ihm echt gefehlt. Warum musste er sie auch belauschen? „So sieht es aus." – „Okay. Dann hör mal zu. Ich werde zu 100 Prozent meine Erinnerungen wiedererlangen. Light ist mein Freund, also kann ich ihn nicht im Stich lassen. Ich will die Gefühle, die ich für ihm empfunden habe, wieder spüren und mich an alles erinnern. Wirklich alles."
Überrascht sah ich Hope an, wobei Light wohl genauso überrascht war. Damit hatte keiner von uns beiden gerechnet. Nicht einmal ansatzweise.


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