Geheimnisse von anderswo

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Ich sprach Elbisch und Zwergisch, noch bevor ich Englisch sprach, ich konnte reiten, bevor ich richtig laufen konnte. Mein erstes Pferd hatte mom mir gekauft, da war ich gerade ein Jahr alt. Auch fechten brachte sie mir bei, bevor ich eigentlich wirklich ein Schwert halten konnte. Sie hatte zwei Schwerter und hatte mir gesagt, das eine hätte mein Vater mir geschenkt, damit ich ihn nie vergessen würde. Geboren wurde ich in Mittelerde, noch vor dem letzten Bündnis gegen Sauron zum Ende des Zweiten Zeitalters. Mom sagte, sie sei damals mit mir, ihrem zwei Tage alten Baby in die andere Welt gegangen, um mich vor den Folgen des Krieges zu schützen. Doch einst gab sie mir ein Versprechen. Sie versprach mir, wir würden eines Tages zurück kehren. Darauf freute ich mich sehr, denn ich hasste die Welt der Menschen...

Wie jeden Morgen erwachte ich mit den ersten Strahlen der Sonne. Es war ein kalter Wintermorgen und ich musste in die Schule. Mom hatte leider darauf bestanden, dass ich wie die Menschen lebe. Aber die bemerkten schnell, dass ich anders war. Nicht nur wegen meiner spitzen Ohren, auch wegen meines Charakters. Um meinen verletzlichen Kern hatte ich mit der Zeit eine kalte Hülle gelegt, so konnten sie nicht sehen, wie sehr mich ihre Worte trafen. Nachdem ich mich aus dem Bett gequält hatte, taperte ich rüber zu meinem Kleiderschrank und nahm mir einen einfachen dunkelgrünen Longsleeve raus. Dazu noch eine schwarze Skinny-Jeans. Vorteil meiner elbischen Eltern: Mir wurde nie kalt, auch nicht bei Temperaturen unter Null. Aber trotzdem zog ich Socken und Winterstiefel an. Es waren schöne weiße Lackboots, die mir bis knapp über den Knöchel reichten und mit schwarzen Schnürsenkeln verschnürt waren. Und ich schnappte mir auch einen Trenchcoat von der Garderobe. Mom war wie immer schon zur Arbeit gefahren, also schnappte ich mir noch schnell meinen hellbraunen Lederrucksack und mein Frühstück vom Küchentisch, bevor ich das Haus verließ und die Tür abschloss. Zum ersten Mal seit langem band ich mir die Haare mal wieder zu einem Dutt zusammen, mir war einfach zu warm, während ich gemütlich zur Bushaltestelle spazierte. Sie lag etwa fünf Fußminuten entfernt, direkt um die Ecke. Der Bus kam natürlich wieder zwei Minuten zu spät, aber anders als die tuschelnden Tussis froren mir beim warten nicht meine Extremitäten ab. Sie lästerten über mich, keine Frage, aber mittlerweile ging mir dieses morgendliche Gespräch am Arsch vorbei. Der Bus war schon recht gut gefüllt und immer wenn ich mich setzen wollte, stellten sie ihre Rucksäcke neben sich. In der hintersten Reihe saß ausnahmsweise auch jemand und zwar saß da das Stufenpärchen, das sich halb am aufessen war. Weil keiner von beiden Anstalten machte, zu rücken, packte ich kurzerhand Jimis Jackenkragen und schob ihn mit einem Ruck gegen Elena, die nun ans Fenster gequetscht wurde. ,,Hey, verzieh dich hier Freak!", schnauzte er mich an. ,,Hey, verzieh dich doch selber du Arschloch", äffte ich seinen Tonfall nach und lehnte mich auf meiner Seite ans Fenster. ,,Was hast du gesagt?", knurrte er und baute sich vor mir auf, während der Bus, der gerade angefahren war, wieder anhielt. ,,Ich sagte, die Menge deiner Intelligenz beschränkt sich auf die einer Erbse und Erbsen sind nicht einmal Lebewesen", sagte ich auf Zwergisch. Er sprach dank eines Online-Forums tatsächlich etwas elbisch, aber niemand hielt sich in dieser Welt damit auf, Zwergisch zu lernen. Er holte zum Schlag aus, doch in einer einzigen geschmeidigen Bewegung hielt ich seine auf mich zusausende Faust auf und beförderte ihn zu Boden. ,,Ich denke, ich laufe lieber, als mit so einem Idioten wie dir auch nur die selbe Atemluft zu teilen", sagte ich dann wieder auf Englisch zu ihm, während sich schon die Busfahrerin aus ihrem Sitz erhob. ,,Zehn Dollar, dass du zu spät kommst", rief er mir noch nach, nachdem ich aus dem Bus gesprungen war und mich dem Wald zuwandte. Ich war schon oft gelaufen, weil ich keine Lust gehabt hatte, mit dem Bus zu fahren und nie war ich zu spät gekommen. Auch jetzt kam ich 10 Minuten vor dem Bus an der Schule an. Elben sind eben schnelle Läufer, aber mom sagte mir, ich sei die schnellste Elbin, die sie kennen würde. Das brachte mir in Sport gelegentlich eine eins ein. ,,Ich warte seit zehn Minuten auf meine zehn Dollar", sagte ich lässig zu Jimi, als er an mir vorbei lief und ich legte ihm einen Arm auf die Schulter. Verwirrt ließ er Elena los, glotzte mich an und stammelte irgendwas davon, dass das doch unmöglich sei und ich bestimmt per Anhalter gefahren wäre. Aber das würde ich nie tun. Schließlich gab er mit einem Grummeln nach und drückte mir zehn Dollar in die Hand. Er war ein Arsch, aber er lebte nach dem Motto Wettschulden sind Ehrenschulden. Wie jeden Morgen traf ich mich nicht mit irgendwem auf dem Schulhof, sondern ich ging direkt in den Klassenraum. Meine Klasse hatte für diesen letzten Tag vor den Weihnachtsferien einen Filmtag geplant und unsere Klassenlehrerin wollte einen Film mitbringen. Wir hatten vor den letzten zwei Ferien jeweils einen Teil von Der Hobbit geguckt, nun würde der dritte folgen. Die Schlacht der fünf Heere. Tauriel gab es in Wirklichkeit nicht, doch durch diese Filme lernte ich etwas über meinen Vater und meinen Bruder, der noch kommen würde. Noch hatte ich keinen Bruder, deshalb vermutete ich, mom und ich würden gemeinsam nach Mittelerde gehen. Ich mochte die Filme und die Geschichte dahinter und als der Dritte Teil dann zu Ende war, stellte ich fest, dass ich diesen Teil am meisten mochte. Nach dem Ende der vierten Stunde strömten alle für die letzte Pause raus auf den Schulhof und veranstalteten mit dem festen, eben erst frisch gefallenen Schnee eine Schneeballschlacht. Ich mochte Schnee. Er glänzte so weiß, wie die Edelsteine, die ich als Armband an meinem Handgelenk trug. Von hinten flog ein Schneeball auf mich zu und in einer einzigen geschmeidigen Bewegung fing ich die glänzende weiße Kugel auf und schleuderte sie mit aller Kraft auf den Angreifer zurück. ,,Headshot", rief ich triumphierend aus und spazierte vom Schulhof. ,,Elenna, willst du nicht noch bleiben?", hörte ich meine Lehrerin rufen, während Jean Newt sich wieder aufrappelte und über einen abgebrochenen Fingernagel jammerte. ,,Nein, ich geh lieber nach Hause", rief ich zurück und spazierte gemütlich los richtung Wald. Ich musste endlich hier weg.

Zu meiner Freude war mom bereits zu Hause, als ich dort ankam. ,,Mom, wir gehen nach Mittelerde", sagte ich im Kommandoton und schmiss meinen Schulrucksack in eine Ecke, ,,Jetzt sofort." ,,Liebling, willst du dich nicht von deinen Freunden verabschieden?", fragte sie und strich sanft über meine platinblonden Haare. ,,Welche Freunde?", erwiderte ich mit einem freudlosen Lachen, ,,Mom, ich gehöre nicht hierher. Ich spüre, dass mein Zuhause woanders liegt!" ,,Okay, ist gut", gab sie dann nach und berührte das Armband an meinem Handgelenk. Dann wandte sie sich für einen Moment ab und sammelte ein bisschen Zeug zusammen, dass sie in einer Schüssel zusammen warf. Als sie den Inhalt der Schüssel auf dem Boden entleerte, wurden wir von einem gleißend hellen weißen Licht eingehüllt. Aus Reflex schloss ich die Augen. ,,Ist es vorbei?", fragte ich nach einer Weile und öffnete meine Augen wieder. ,,Ja", erwiderte mom und ich sah etwas, was ich noch nie wirklich an ihr gesehen hatte: Sie lächelte nicht nur, sie strahlte. Ich wandte mich in die Richtung, in die auch sie sah. Vor uns lag ein verdammt dunkler Wald. Mom ergriff jedoch meine Hand und zog mich mit sich, als wäre das kein verdammt unheimlicher Wald, sondern als wäre das unsere kleine Vier-Zimmer-Wohnung am Rande Englands, recht weit im Norden. Ihr weißes, figurbetontes Kleid leuchtete in der Dunkelheit beinahe wie eine Fackel. Meinen Trenchcoat zog ich irgendwann aus, weil mir zu warm war. ,,Bist du sicher, dass du weißt, wo es lang geht?", fragte ich, nachdem wir bereits eine Stunde oder so durch diesen Wald spaziert waren, ohne irgendein Ziel zu erreichen. ,,Ich habe 80 Jahre in diesem Wald gelebt, ich kenne ihn so gut wie meine Westentasche", erwiderte sie darauf nur und zog mich weiter, ,,Wir sind bald da, es ist nicht mehr weit." ,,Definiere nicht mehr weit", seufzte ich genervt. Vielleicht war meine Ausdauer unbegrenzt, aber wenn ich den Weg nicht kannte, dann hasste ich längere Fußmärsche. Ich war eben unter Menschen aufgewachsen. Aber nach einer weiteren Stunde oder so standen wir endlich vor einem Ziel: Eine Brücke, die zu einem gewaltigen Schloss mitten zwischen den Bäumen führte. ,,Ist es das?", fragte ich meine Mutter, doch die winkte mir bereits von der anderen Seite der Brücke zu, ich solle zu ihr kommen. Hatte ich wirklich so lange da gestanden und gegafft? Scheinbar ja. Ich beeilte mich ihr zu folgen, denn ohne sie würde ich mich in diesem riesigen Gebilde verirren. ,,Meine Königin", sagte der Wachmann auf elbisch, als wir ans Tor kamen, ,,Es ist eine Freude, euch nach so langer Zeit wieder zu Gesicht zu bekommen." ,,Die Freude liegt ganz auf meiner Seite", erwiderte sie in akzentfreiem elbisch, ,,Würdest du Thranduil unsere Ankunft ankündigen?" ,,Natürlich", erwiderte die Wache und verschwand mit einer knappen Verbeugung. 

,,Wow", stieß ich bewundernd aus, als wir den Palast betraten, ,,Es ist wunderschön hier mom. Wieso bist du überhaupt gegangen?" ,,Du hast dir ja die Verfilmungen von Tolkiens Romanen angesehen", erklärte sie nur knapp, ,,Es war wegen Sauron. Das war der einzige Weg, dich vor den Fängen seiner dunklen Macht zu schützen. Ich weiß, du hattest es nicht leicht in der Welt der Menschen, aber..." ,,Elleth", wurde sie von einer tiefen und doch sanften Stimme unterbrochen. Und schon stand ich da, wie bestellt und nicht abgeholt, als ein hochgewachsener Typ mit sehr dichten Augenbrauen und platinblonden Haaren mit einer Krone aus Zweigen und Blüten auf seinem Kopf sie in seine Arme riss. Ich hätte genauso gut auch Luft sein können, so wie die beiden sich ansahen. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, während sie zu ihm auf elbisch sagte: ,,So lange ist es her und nicht ein bisschen hast du dich verändert mein Geliebter." ,,Ich fürchtete schon, ich hätte dich auf ewig verloren", erwiderte er auf elbisch und strich ihr zärtlich über die Wange, bevor sie anfingen, zu knutschen. Ich sah eine ganze Weile an die Decke und ließ ihnen ihren Freiraum, bevor ich mich schließlich räusperte und sagte: ,,Ich bin auch noch hier, falls du mich vergessen haben solltest mom. Gelegentlich werde ich dich brauchen, wenn ich ohne Handy überleben soll." Und tatsächlich lösten sich die beiden voneinander und mom sagte noch immer unter Tränen: ,,Ich möchte dir unsere Tochter vorstellen. Elenna." ,,Es freut mich sehr nun endlich deine Schönheit zu erblicken Elenna", sagte Thranduil dann zu mir, während er immer noch moms Hände hielt und mir dabei fest in die Augen sah. ,,Ja, freut mich ebenfalls", erwiderte ich und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Da waren wir nun. In Mittelerde. Bei meinem Vater. Dem Elbenkönig Thranduil. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber ich fühlte mich sofort zu Hause an diesem noch fremden Ort. An diesem fremden Ort voller Geheimnisse und ich würde sie alle ergründen...  

Der Hobbit Der König unter dem BergeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt