Dekontamination

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Es ist kalt, ich friere. Das Atmen fällt mir schwer, es tut so weh. Der Regen verwäscht die Spuren, bedeckt alles mit Wasser, tropft auf mein Gesicht. Ein Tropfen rinnt von meinem linken Auge, Wasser vermischt mit einer Träne. Es tut so weh...  Die Wangen brennen, als fräße sich ein Feuer durch meine Haut bis tief in das innere meines Gesichts.
Der Wind fegt mir Blätter ins Gesicht, meine notdürftige Decke weht um mich herum.
Die Sirenen schallen durch den Sturm, sie kommen. Sie kommen um mich zu retten, mich und all die anderen, die ums Überleben kämpfen.
Mit jedem Atemzug werden die Schmerzen stärker, die Luft knapper. Dabei liege ich doch unter freiem Himmel.

Ich höre die anderen... sie schreien, rufen um Hilfe. Die die noch laufen können, versuchen den anderen zu helfen.
Meine Schwester ist verzweifelt, ich höre ihr flehen... sie hatte Glück, sie konnte sich noch rechtzeitig retten. Sie zerrt an mir, versucht mich weg zu ziehen. Weg von diesem Ort.

Die Sirenen sind verstummt, um uns herum Leute... In der Ferne ein paar Feuerwehrleute. Doch sie kommen nicht näher. Nur Leute in Ganzkörperanzügen. Helft mir! Das Atmen tut so unendlich weh.. der Platz in meinem Brustkorb scheint zu schrumpfen. Ich will nur noch atmen... ich will leben...

Einige Meter entfernt werden Zelte aufgebaut.... ein großer Container von einem Feuerwehrfahrzeug abgerollt... Helft mir doch... ich möchte schreien, doch die Luft in meinem Brustkorb reicht nicht mehr...
Eine Stimme nähert sich mir, jemand zieht meine Schwester von mir weg. Ich will nach ihr rufen aber ich kann nicht. „Geht es dir gut?“. Was für eine Frage, natürlich nicht. Jemand in orange, komplett eingepackt, mit nur einer Sichtscheibe für das Gesicht. Er sieht nett aus..
ich kann ihm nicht antworten... Mit meiner Hand versuche ich ihm zu bedeuten, wo es weh tut. Ich weiß nicht was ich zuerst andeuten soll. Mein Gesicht brennt, meine Rippen schmerzen und das Atmen tut so unendlich weh. Mit aller Kraft ringe ich nach Luft.
Der Mann macht mir ein rotes Band um den Arm, auf das er etwas draufgeschrieben hat. Noch während ich versuche dies zu entziffern, dreht er sich um. Bleib hier! Lass mich nicht allein...

Eine Gefühlte Ewigkeit später kommt jemand wieder zu mir... Ich will reden, schreien, rufen. Ich will meinen Schmerz zum Ausdruck bringen. Er redet zu mir, fragt mich was passiert ist. Wir saßen im Zug, dann hat es nur noch geknallt. Alles voller Rauch, meine Schwester neben mir auf dem Boden. Wir konnten noch raus als es ein zweites Mal geknallt hat. Anders als vorher... Etwas ist explodiert.Wir waren mit einem entgegengekommenen Güterzug zusammengestoßen... dann ist etwas aus einem Tank explodiert.

Der Man redet auf mich ein, ich solle wach bleiben, mit ihm reden und mich aufs Atmen konzentrieren. Jemand zweites kommt dazu. Eine Frau. Sie stellt sich als Ärztin vor und schaut auf mein Band. Dann drückt sie seitlich auf meinen Brustkorb... mein Schreien erstickt schon bevor es richtig rauskommt. Sie sagt etwas zu dem Mann und geht wieder. Was ist hier los? Was passiert mit mir? Wo sind die anderen? Ich habe Angst.
Meine einzige Hoffnung ist der Mann neben mir, es kommt mir vor, als wäre ich vollkommen allein.
Ich schließe meine Augen, spüre wieder den Regen auf meiner Haut.

Jemand rüttelt an meiner Schulter, schreit mich an, ich muss wach bleiben. Wie man mich zur Seite dreht bekomme ich kaum mit. Ich liege nun auf einem gelben Spineboard, plötzlich viele Menschen in Anzügen um mich herum. Sie heben mich hoch und tragen mich irgendwo hin.
Der Regen hat aufgehört...

Der Regen hat nicht aufgehört. Ich befinde mich in einem Zelt. Vier oder fünf Leute stehen um mich herum. Ich habe keine Kraft mehr um zu fragen was passiert... Jemand sagt mir, ich solle meine Augen schließen, dann gießt er mir Wasser über die Augen. Meine Kleidung wird aufgeschnitten und wieder drückt jemand auf meine Rippen. Irgendwer leuchtet in meine Augen, jemand klopft auf meinem Brustkorb. Sag mir doch jemand was hier passiert? Warum macht man all das mit mir? Ich verstehe nicht, was los ist.. Es fühlt sich merkwürdig an, so dort zu liegen, ohne Kleidung... und doch geben diese Menschen ein Gefühl von Sicherheit. Mir wird geholfen. Aber wie? Die Antwort bekomme ich nicht.

Die Haare werden mir zusammengebunden und ich bekomme eine Schutzbrille. Ich bin wie eine Puppe. Eine schlaffe Puppe, die nur noch durch flache Atemzüge am Leben bleibt. Gekennzeichnet mir einer Nummer. Nummer 49.
Die Decke wird mir weggenommen, aber im Zelt ist es wärmer als draußen. Man sagt, ich sei mit irgendwas kontaminiert und solle jetzt geduscht werden...  Bei der Explosion ist irgendetwas aufgetreten, was uns alle verletzt hat... Explosion? Da war was. Wie im Nebelschleier habe ich die Bilder noch immer vor Augen.

Ich werde mit dem Spineboard um gehoben auf eine Rollschiene und dann durch einen Plastikvorhang. Dort warten wieder vermummte Leute. Meine haut wird mit Waschschwämmen eingeschäumt. Jemand spricht zu mir... ich muss wach bleiben. Während warmes Wasser über meinen Körper fließt überlege ich... was haben sie mit meiner Schwester gemacht? Sie war nicht im Zelt, ich kann sie nicht hören. Ich will nach ihr fragen aber es ist so laut um mich herum. Ich kann nur hoffen, dass es ihr gut geht. Der Rest Wasser rinnt an mir herab und nimmt den Rest des schädlichen Stoffs mit...

Das Board bewegt sich, mit dem Kopf voran werde ich weitergeschoben. Abgefertigt wie eine Puppe in der Fabrik. Ich brauche frische Luft, ich will Atmen. Zunehmend geht mir die Luft aus. Ich weiß nicht, ob die Schmerzen mehr werden. Der Platz in meiner Brust wird es jedenfalls nicht. Ich ringe immernoch nach Luft... die Leute um mich herum sind wie aus einem Film. Als wären sie nicht echt, als wäre ich nicht mehr ich.

Wieder ein Plastikvorhang, wieder Menschen. Diesmal ohne Schutzanzug. Dafür mit Mundschutz, Schutzbrille und Handschuhen. Ich fühle mich elendig. Wie etwas weltfrmdes, wie ein Alien, was nun ausgeliefert wird um getestet zu werden. Kaum jemand spricht mit mir. Immernoch auf meinem Board liegent stehen wieder einige Leute um mich herum. Zwei trocknen mic mit einem Handtuch ab. Meine Beine, meine Füße, meine Hüfte, über Bauch und Brust bis rauf zu den Armen und dem Nacken. Es ist unangenehm so behandelt zu werden. Ein schätzungsweise junger Mann tritt an mich heran und spricht mich an. Endlich, rede mit mir. Sag mir was hier los ist. Wer bist du, was ist das hier? Er heißt Andreas, sein Kollege Marc stehe hinter meinem Kopf. Man habe mich und die anderen geduscht, um uns von dem Stoff aus dem explodierten Tank zu reinigen. Ich frage ihn nach meiner Schwester, aber auch er kann mir nichts zu ihr sagen, Während mir die Tränen aus den Augen rinnen streicht er mir über die Stirn. Es wolle sich erkundigen, aber erst einmal müsse er sich um mich kümmern. Er sagt, der Notarzt wolle mir eine Nadel in den Brustkorb stechen, um mir die Atmung zu erleichtern. Eine Nadel? Ja, da sei Luft grob gesagt zwischen meiner Lunge und den Rippen, die den Platz zum Atmen nehme. Na wenn er meint. Ich höre in dem Treiben um mich herum nur seine Stimme. Er sagt ich solle ihm vertrauen, es passe auf mich auf. Eine konfuse Situation, hier ohne Kleidung offen zu liegen, mittlerweile nur ein Handtuch auf meinem Körper. Umgeben von wildfremden Leuten, großteilig Männer. Und dann soll ich vertrauen....

Andreas kleib mir ein EKG auf, das kenne ich von meinem Hausarzt. Auch die Vitalwerte werden überprüft. Was sie ergeben sagt mir niemand. Das einzige was ich weiß ist, das mein Herz noch schlägt.

Mir ist kalt, in dem vorherigen Abschnitt war es angenehmer. Meine Haut gleicht der von einem gerupften Huhn, wo ist meine Decke?
Wieder schaut mir jemand in meine Augen, Andreas redet wieder mit mir. Er setzt mir eine Maske auf das Gesicht, das Atmen fällt mir langsam etwas leichter. Egal was sie gemacht haben, sie wollen weitermachen. Ich will Leben, meine Schwester wiedersehen, weg von hier.
Ein stechen an meinem Arm, jemand hat mir einen Zugang gelegt. Grün ist wohl auch hier die Farbe der Hoffnung.
Seine Hand an meiner Wange hat etwas vertrautes... seine Stimme zieht mich an, ich höre was er sagt.
Plötzlich hebt man mich um auf etwas anderes. Andreas steht rechts von mir, nimmt meine Hand und sage man würde mich nun nach rechts kippen, um das Spineboard zu entfernen. Und dann? Lässt man mich fallen? Das Board kippt nach rechts und ich klammere mich an Andreas fest. Ehe das Board weg ist bemerke ich eine Trage, auf die ich rutsche. Gebt mir meine Decke wieder... Meine anfängliche erste Sicherheit, die man mir zusammen mit meiner Kleidung genommen hat. Ich will sie wiederhaben.

Was ich bekomme ist eine knisternde Rettungsdecke, darüber eine blaue Stoffdecke. Andreas und jemand anderes schließen die Gurte der Trage. Jemand fragt, welche Nummer ich denn sei. Wa war es wieder. Die Puppe Nummer 49.
Die Trage bewegt sich, man schiebt mich, immernoch mit dem Kopf voran aus dem Zelt und prompt spüre ich wieder den Regen auf meiner Haut, Ich schließe meine Augen. Wie ein Film läuft alles an mir vorbei, der Gefühl der Kälte, der Regen, der Wind. Nur die Schmerzen sind besser, ich kann wieder besser Atmen... Eine Mischung aus Gefühlen. Diese Hilflosigkeit, alleingelassen, das Ungewisse, die Angst, der Schmerz. Man fühlt sich wie eine Puppe. Ahnungslos, allein unter fremden Leuten, ohne Kleidung und abgewaschen wie ein verschmutztes Spielzeug.
Und doch ist da jemand, dem man vertraut. Die eine Hoffnung an die man sich klammern muss, um den Willen zum Überleben aufrecht zu erhalten. Ich weiß nicht, wer zuerst da war, wer mich alles gesehen hat. Viele Leute nacheinander. Ich weiß nicht, was sie gedacht haben, was sie denken.

Andreas sitzt neben mir. Ich liege in einem der bereitstehenden Rettungswagen. Er redet wieder auf mich ein, ermutigt mich zum Wachbleiben. Erst jetzt fragt er mich nach meinem Namen. Der Monitor vor ihm piept in mehr oder weniger rhythmischen Abständen. Mein Herz schlägt also wirklich noch. Andreas kann alles sehen. Mein Herz schlägt schwächer als sonst, aber immernoch genau da, wo es schon immer geschlagen hat.
Mir wird schwindelig, Andreas legt seine Hand auf meine. Ich schaue ihn hilfesuchend an. „Du wärmst dich auf, das ist gleich vorbei.“
Er erzählt mir, dass er derjenige war, der mich zuerst betreut hat. Er war für mich zuständig. Aber wo war er, als man mir meinen Schutz genommen hat? Er musste sich umziehen, um nach der Dusche auf mich warten zu können. Er musste seinen Schutz ablegen, um weiterhin für mich da sein zu können.
Die Fahrt zur Klinik zieht vorbei wie ein... Naja, wie ein Zug ist glaub ich gerade die falsche Aussage. Ich lausche seiner Stimme und antworte bereitwillig auf Fragen. Immer wieder erkundigt er sic nach meinem Befinden, redet wieder beruhigend auf mich ein. Ermutigt mich, weiterhin nach meiner Schwester zu fragen und erzählt von seinem Job. Nebenbei ist er Musiker. Ein kleines Lächeln, ich auch. Mein Tattoo auf meiner Schulter hat er im Zelt schon irgendwann gesehen. Prompt habe ich das Bedürfnis zu singen aber die Luft reicht gerade mal zum sprechen.
In der Klinik geht alles leider viel zu schnell... Von der Trage auf die Liege und raus auf den Flur. Andreas wünscht mir alles Gute und verabschiedet sich von mir... Dann sehe ich nur noch seinen Rücken, wie er weggeht. Ich bin wieder allein, ein kleines Deja-vue. Nur ich, und meine Decke... und eine Portion Hoffnung. Mein Seil, an das ich mich seit der Dusche geklammert habe, ist mir aus den Händen geglitten. Ich werde mich auf die Suche machen, und Andreas wiederfinden. Und meine Schwester.

ÜbungsszenarioWo Geschichten leben. Entdecke jetzt