Der Tag an dem alles begann

2 0 0
                                    

Es war ein schöner, verschneiter  Februarnachmittag in einer schönen, kleinen Großstadt. Ein Uhr zweiundfünfzig. Oder dreiundfünfzig.
    Womöglich war der Minutenzeiger gerade auf die dreiundfünfzig gehüpft, als Schwester Gisela ihren Kuli aus ihrem Schwesternkittel zog und sich die Uhrzeit vermerkte. Ein schriller Schrei erfüllte die Flure der Kreuznacher Diakonie. Erst das meiner Mutter, und dann, mit zehn Minuten Verzögerung, folgte meines.
    Kurz nachdem ich meine eigenen vier Wände mit daueraktivem Whirlpool verlassen hatte, hatte ich eigentlich genug Beweggründe gehabt, zu schreien. Das Essen wurde nicht mehr serviert, ohne dass ich mich dafür bewegen musste - jetzt musste ich den Mund dafür aufmachen - , das Klo bestand jetzt aus Polypropylen und Polyethylen  - keine Sorge, ich kann es auch nicht aussprechen - und mein warmes Wasserbett war vorher auch gemütlicher als alles, was danach noch folgte. Und plötzlich war da dieses grelle Licht, diese vielen fremden Gesichter, die bei meinem Anblick dahin schmolzen, obwohl ich ganz verschmiert und verklebt war. Aber ich schrie nicht. Ich war relaxed.
    Bis…ja, bis so ein Vogel im weißen Kittel meinte, mir einen heftigen Klaps auf den Po geben zu müssen. Ein guter Start in ein neues Leben.
    Nach dem dritten Klaps endlich schrie ich aus Leibeskräften und wurde brüllend meiner Mutter überreicht. Als Papa mich sah, erschrak er.
    Ich war rosa, hässlich, klein und ziemlich schrumpelig.  
    Und ich hatte einen Spitzkopf. Und das ohne die Hilfe einer Glocke. Sowas machte ein Neugeborenes nicht wirklich ansehnlich.
    Ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass Papa es damals in Erwägung zog, ich wäre möglicherweise vertauscht worden. Leider Gottes war das nicht der Fall.
    Man musste mir nur einmal ins Gesicht sehen, und zack! Ganz der Papa. Ich hatte seine Augen und nur eine Augenbraue. Ja, richtig, nur eine! Wo die andere war?
    Die war mit der anderen zusammengewachsen… und zu meinem Nachteil hatte ich auch seine Nase. Nicht, dass ich seine Nase hässlich finde, IHM steht sie ja. Aber mir? Um es kurz zu fassen; Ich verabscheue diesen Zinken abgrundtief.
    Aber wer so eine Nase hat wie ich, der braucht keine anderen Probleme. Was nicht heißt, dass er keine anderen hat. Was meine Nase betrifft, ist Papa der Meinung, ich hätte einen Sockenschuss. Weil ich so eine schöne Nase hässlich finde.
    Jetzt Mal unter uns: Sie ist weder spitz, noch stupsig, noch gerade. Und ich soll einen Sockenschuss haben?
Papa liebte mich trotz meines spitzen Kopfes, er hatte ja auch keine andere Wahl, denn sonst hätte er mit Mama ein kleines Problem, und meiner Nase, die mir natürlich als Säugling noch keine Minderwertigkeitskomplexe verschaffte, dafür aber später umso mehr. Es war eben der berühmt berüchtigte Schockmoment. Zum Glück erhielt ich nach einigen Wochen eine vernünftige Kopfform. Das war ja wohl das Mindeste, was die Natur mir schuldete. Es reichte schon, wenn mir meine Nase bald zu schaffen machen sollte, die natürlich keine Anstalten machte, sich eine Scheibe abzuschneiden und auch eine vernünftige Form anzunehmen, ganz im Gegenteil! Sie wuchs leise vor sich hin und das Allerschlimmste; Keiner konnte das verhindern.
    Das einzige was bis heute angehalten hat, abgesehen von meinem überaus nicht wirklich ansehnlichen Riechkolben, ist meine Größe und mein vorlautes Mundwerk.  
    Heute ein Meter dreiundfünfzig. Von den ein Meter vierundfünfzig noch meilenweit entfernt.
    Bevor ich aber schon im Alter von null Jahren und zwei Minuten mein eigenes Problemnetzwerk erschaffen konnte, wurde ich die Attraktion des Krankenhauses.

Um mich und alle meine Leidensgenossen zu motivieren: Ich bin nicht klein, sondern bis aufs Beste reduziert.
   
Nun sollte ich ja so gestrickt sein, dass ich aus jedem Strich und jeder Linie ein Kunstwerk schaffen konnte, obwohl nicht eine einzige Frau aus meiner Familie je eine andere Begabung hatte als das Stricken und Häkeln, Knüpfen und Sticken, Stopfen, Weben und Nähen. Hab ich was vergessen?
    Also woher habe ich nur diese Veranlagung? Ich kann dir sagen: Es gibt keine. Irgendwie musste sich ein blinder Passagier in die Genfabrik meiner Mutter verirrt haben, der vorher anscheinend in Mamas Bauchraum bis dato noch planlos herumgeschwommen war. Irgendwo schien er dann doch sein Korn gefunden zu haben und fand seinen rechten Platz in mir.
    Ich bin dabei, eine eigene, neue Generation mit neuen, kreativen Merkmalen zu gründen.
    Gehen wir also zurück an den Kernpunkt, den Urknall, der für die Entstehung meiner Begabung verantwortlich war. Daran war nämlich Oma Stern Schuld. Sie heißt wirklich so, nur dass es auf Arabisch nicht so unrealistisch klingt.
    Keinen blassen Schimmer wer sich das ausgedacht hat, aber in unserer Familie gibt es ein Ritual, durch das alle Krabbelanfänger mussten. Dazu bedarf es eine Decke, ein paar Gegenstände, die man im Haushalt so findet, sprich Bausteine, Stifte, Häkelnadel, Wolle, Spielzeugautos und eine Schere.
    Was Oma Stern zuerst vorhatte, war mehr als eindeutig, als sie mit der Riesenschere in der Hand strahlend auf mich zukam und vor versammelter Mannschaft meinen schönen, teuren, liebevoll ausgesuchten und hochwertigen Langarmbody vom Ausschnitt bis zu meinem Bauchnabel zerschnitt, den Rest zerriss sie mit den Händen entzwei, bis ich nur noch in Windeln ahnungslos auf meiner Decke saß und nicht wusste, was die denn jetzt alle von mir wollten.
    Es passierte nix. Gar nix. Ich saß da, sah abwechselnd Oma, dann Opa, dann die komplette Gesellschaft um mich herum an. Ich musste aufstoßen. Nach weiteren fünf Minuten wurde es mir zu bunt. Ich wollte gehen.
    Aber halt. Irgendetwas hielt mich davon ab, einfach aufzustehen und zu verschwinden. Ach ja, richtig! Laufen würde ich ja erst in drei Monaten lernen.
    Tja, was nun? So blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Hintern in die Höhe zu strecken und mit hoch erhobenem Haupte und miefender Windel davon zu krabbeln. Aber ich hatte die Rechnung ohne meine Frau Mamá gemacht. Wie eigentlich immer.
    Schnurstracks hatte sie mich eingeholt und wieder auf die Decke gesetzt. Inzwischen hatte Oma Stern die Gegenstände auf der Decke verteilt und Papa und meine Onkels die Videokamera aufgebaut. Ich musterte jeden einzelnen Gegenstand neugierig, ehe ich mich wieder in Bewegung setzte und auf eines der Gegenstände zu krabbelte. Ich griff danach und steckte es in den Mund. Es war ein Stift.
    Und er schmeckte eigenartig. Es war auch nicht essbar.
    Um noch einmal sicherzugehen, steckte ich es noch einmal in den Mund. Ja, ganz klar; Man konnte das nicht essen. Aber wozu war es sonst gut?
    Während alle anderen im Wohnzimmer sich total hin und weg darüber freuten, dass ich eines Tages eine große Künstlerin werden würde, saß ich da und erforschte den Stift. Ich drehte ihn zwischen den Fingern, warf ihn auf die Decke, um zu gucken, ob er wieder zu mir zurückkam und klopfte damit auf den Boden. Man hatte mir später ein Blatt Papier hingelegt, mir den Stift abgenommen, um ihn mir dann richtig herum wieder in die Hand zu drücken und mit mir zusammen die ersten Striche gemalt.
    Dieser Stift also war meine Inspiration, meine Bestimmung, Dank meiner Oma Stern und diesem seltsamen Ritual. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages tatsächlich besser mit dem Stift umgehen kann als mit dem Taschenrechner?

Auf den Spuren der KatastrophenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt