Oma Stern war gläubig, Ist sie immer noch. Sehr sogar. Zu meinem Nachteil. Für sie waren Wunder existent. Und davor wurde selbst ich nicht verschont.
„Marliesi! In Amerika ist ein Baum mitten in der Stadt aus dem Boden gewachsen!“
Sie sagte es immer aus voller Überzeugung, dass man ihr einfach glauben musste. Dabei leuchteten ihre Augen ganz stark und ihre Backen glühten jedes Mal vor lauter Euphorie wie zwei Glühwürmchen. Oma hatte Beweise, dass es Wunder wirklich gab. Beweise, die sie nicht beweisen konnte. Irgendwie hatte sie es trotzdem geschafft, mich dazu zu bringen, an gewisse Dinge zu glauben, die meiner Meinung nach, wie soll ich sagen, völlig absurd sind! Du glaubst mir schon wieder nicht? Ich muss ja ziemlich unglaubwürdig klingen. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht dazu auch noch eine Geschichte hätte.
Es war ein regnerischer Tag, die Straßen waren nass und ich saß fest.
Nein, nicht schon wieder zwischen den Gittern im Treppenhaus meiner Großeltern, sondern im Auto.
Und Oma saß hinten. Wir fuhren über eine Landstraße, die durch den Schwarzwald führte, und Oma begann, sich zu erinnern. Und Oma hatte viel erlebt. Wie lange es wohl dauerte, in ihrem Archiv die passende Geschichte herauszufiltern und dann auch noch Revue passieren zu lassen?
„Marliesi. Wenn man glauben will, dann können ganz wunderbare Dinge geschehen.“
Ich saß daneben und sah sie entgeistert an. Mit vier.
„Dein Opa und ich haben einmal eine Kirche in Lourdes besichtigt. Diese Kirche, Marliesi, diese Kirche hatte über dem Altar kein Dach.“
Alles auf Arabisch natürlich, das machte die Geschichte dramatischer. Abgesehen davon konnte Oma ja kein Deutsch.
„Und was hat man gemacht, wenn es geregnet hat?“
„Dann wurde der Altar nass. Aber…“ Sie machte eine theatralische Pause, ehe sie fortfuhr. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass meine unnötigen Fragen zwischendurch selbst sie aus dem Konzept brachten.
„Über dem Altar wuchs ein Baum. Und wie wir so da waren, an einem goldenen Herbsttag, sahen wir ein Mädchen in die Kirche kommen. Dieses Mädchen war krank.“
„Richtig krank? Mit Schnupfen und Husten?“ Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Oma lachte.
„Nein, sie hatte eine Krankheit, die man nicht heilen konnte. Und dieses Mädchen, Marliesi, dieses Mädchen stand vor dem Altar und sah sich das Jesuskreuz an.“
„Und wo waren ihre Eltern?“, wollte ich wissen, da ich es mir nicht vorstellen konnte, ohne Mama und Papa alleine in die Kirche, geschweige denn irgendwohin zu gehen. Das nenne ich mal eine Erziehungsmethode mit Hintergedanken! So zieht dein Kind garantiert nie aus.
„Ihre Eltern knieten vor der Maria-Gedenkstätte und beteten für ihr Mädchen. Auf einmal fiel ein Blatt hinunter und das Mädchen fing es mit beiden Händen auf.“
Meine Augen leuchteten, meine Wangen glühten.
„Und dann?“
Ich platzte beinahe vor Neugier.
„Und dann, Marliesi, dann war das Mädchen gesund.“
Nach dieser Geschichte musste ich immer an das Mädchen denken, wenn ich unter einem Baum stand. Ich hatte dann immer versucht, ein Blatt zu fangen, um auch so ein Wunder zu erleben. Und wenn ich mal eines gefangen hatte, dann war weder mein Fahrrad wieder repariert, noch war mein aufgeschürftes Knie wieder heile. Pfff!
Nun will ich nicht untergraben, dass ich in meiner Kindheit sehr viel verar…an der Nase herum geführt wurde.
So ein „Wunder“ erlebte ich ja an Ostern nicht selten, ich erinnere bewusst an die regenerativen Ostereier oder an Onkel Luis´ Zauberkünste. Trotzdem gab es eine Kleinigkeit, die mich heute stutzig macht. Oma hatte ein, naja wie soll ich sagen, Ritual, wie sie Dinge, die verschwunden waren, wieder auftauchen ließ. Nicht mithilfe eines Zauberspruchs, das wäre ein wenig zu unglaubwürdig, wobei ich das von Onkel Luis ja nicht anders kannte. Nein, Oma hatte da so ihre Tricks. Eines Tages ging ich zu ihr und fragte sie, ob sie Delfini gesehen hatte.
„Ich weiß es nicht.“
„Ich habe schon überall gesucht. Ich kann ihn nirgends finden.“ Eben war er doch noch da. Merkwürdig. Da hatte Oma Stern eine Idee. Eine, auf die im Leben niemand gekommen wäre.
„Weißt du was? Wir zünden eine Kerze an. Mar´Antonius wird dir deinen Delfini wieder zurückbringen.“, erklärte Oma Stern.
Mar… wer?? Wer war das denn schon wieder? Oma erklärte es mir. So langsam kam es aber selbst mir spanisch vor, dass Oma seltsame Geschichten erzählte, die angeblich wahr sein sollten. Also wartete ich, davon überzeugt, dass an der Mar´Antonius-Geschichte nichts dran war, in der Küche darauf, dass mein Delfini mit einem Wusch! wieder auftauchte. Und es geschah nichts.
„Siehst du, Oma? Delfini ist immer noch nicht da.“, meinte ich siegessicher, so als hätte ich mit Oma um fünfhundert Euro drum gewettet, dass es nicht sein kann, dass ein seit Jahren totgesprochener Heiliger mir meinen Plüschdelfin wieder zurückbrachte. Oma lächelte nur und ließ mich meiner Wege ziehen.
Derweil kümmerte ich mich darum, aus Omas Waschpulver – ich spielte sehr gerne damit, besonders wenn es regnete und der Sandkasten nass war - eine Waschpulverburg zu bauen, ihre Wäscheleine als Springseil zu benutzen und ihre Speisekammer zum zweiunddreißigsten Mal zu erkunden, als ich unter der Konservenkommode etwas erblickte.
Ich trat näher und fischte es hervor. Beim heiligen Antonius! Delfini war wieder da! Die Wiedersehensfreude war riesig.
„Oma! Guck mal wen ich gefunden habe!“
Mit Delfini im Arm rannte ich die Treppen hoch und hielt mein Plüschtier direkt unter Omas Nase.
„Siehst du? Was habe ich gesagt?“
Eigentlich würde Oma Stern die Macht des Mar´ Antonius nicht für solche Kinderspielchen ausnutzen. Sie setzte sie nur dann ein, wenn etwas Wertvolles verloren gegangen war. Die Sache mit Delfini war wahrscheinlich nur dafür gedacht, um mich davon zu überzeugen, an Wunder zu glauben. Und es hatte funktioniert. Nur beschränkt, aber funktioniert.
Einige Wochen später suchte Mama meine goldene Maria-Kette, weil ich sie beim Spielen wieder verlegt hatte. Sie stellte die ganze Wohnung auf den Kopf, räumte aus und wieder ein, und zum ersten Mal seit langer Zeit sah unsere Wohnung aus wie geleckt. Nur die Kette ließ sich nicht finden.
Mama wusste nur noch einen Ausweg. Sie ging in die Küche und zündete eine Kerze an. Einige Tage später war die Kette wieder aufgetaucht.
Sie hatte im Schmuckkästchen gelegen. Entweder, und dass ist die logischere Variante, hatte Mama sie übersehen, oder Mar´Antonius hatte tatsächlich seine Finger im Spiel. Für mich stand ab dem Zeitpunkt fest: Wunder gibt es immer noch nicht, aber Mar´Antonius hatte offensichtlich Freude daran, Eigentum von kleinen Mädchen und deren Großmüttern und Müttern zu nehmen, um sie ihnen dann wieder zurückzugeben.
Wenn Mama heute etwas sucht, erwische ich mich jedes Mal selbst dabei, wie ich sage: „Mach ´ne Kerze für Mar´Antonius an.“, bevor sie das ganze Haus wieder auf den Kopf stellt. Obwohl…vielleicht wäre das gar keine so schlechte Idee, dann wäre endlich mal wieder alles blitzblank.
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Auf den Spuren der Katastrophen
HumorLass dich entführen in eine Welt der Katastrophen. Wo Omas Röcke tragen, Kinder fliegen können, Kinderkriege und weitere Peinlichkeiten bekämpft werden. Wo Hosen aussehen wie Katzen und umgekehrt, und wo heilige Geister Delfine klauen. Alle Rechte...