≫ Brief 3

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Jo,

ich hab's getan! Ich habe mich überwunden und bin in das Zentrum von Luke und seinen Freunden gegangen.

... Okay, um ehrlich zu sein, war es eher eine Notsituation. Mutter heulte mich mal wieder voll, wie sehr meine "Hirngespinste" sie belasteten und da hab ich es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Es ist ihr einfach komplett egal, wie es mir geht.
Und na ja, weil es draußen regnete, konnte ich auch nicht einfach im Park chillen und so bin ich halt in das Zentrum gelaufen.

Vorbei an der alten Kaserne, über einen Feldweg, ein Stückchen in den Wald hinein. Es regnete stark, zum Glück hatte ich meine Beanie auf, um mich vor dem Regen zu schützen. Ich trage gerne Beanies. Früher, als ich nach außen noch als Mädchen gelebt habe, habe ich gerne meine langen Haare darunter versteckt. Aber auch jetzt noch geben mir Mützen irgendwie das Gefühl, "beschützt" zu sein - ich kann es nicht wirklich beschreiben.

An einer großen Buche sah ich schließlich einen roten Wegweiser, auf dem in krakeliger Schrift "Autonomes Zentrum - 200m" geschrieben war. Ich folgte der Anweisung und stand schließlich vor einem kleinen Haus.

Mit unsicheren Schritten näherte ich mich der rot gestrichenen Eingangstür, ehe ich diese - sie war nur angelehnt - vorsichtig öffnete. Sofort stand ich in der Mitte eines großen Raumes. Das kleine, unscheinbare Häuschen wirkte von innen deutlich größer, da es keine Innenwände hatte und praktisch nur aus einem Raum bestand.
Ich hatte generell eher das Gefühl, in einem gemütlichen Wohnzimmer zu sein, dazu trugen auch die vielen Sofas bei, die überall im Raum verteilt standen. Auf einem davon saß Nami, als sie mich sah, erhob sie sich.

"Hey, Alex! Cool, dich hier zu sehen. Hast du gut hergefunden?" "Hallo Nami, ja, alles gut. War nur etwas nass.", ich lachte leicht. "Kann ich vielleicht meine Jacke irgendwo aufhängen?"
"Klar, hier sind Haken." Nami deutete neben die Tür, wo ein paar verbogene Löffel als improvisierte Garderobenhaken an der Wand hingen.
Nami war süß. Ihre langen, lila gefärbten Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten und in ihrem Gesicht lag fast immer ein verschmitztes Grinsen. Wäre ich hetero, hätte ich sie vermutlich attraktiv gefunden.

Ich setzte mich neben Nami auf das Sofa und ließ meinen Blick etwas durch den Raum schweifen. Es haben definitiv einige Leute sehr viel Mühe, Zeit und Arbeit in das Zentrum gesteckt. Ein Stützpfeiler in der Mitte des Zimmers war über und über mit Stickern beklebt. Eine der Wände war komplett in Regenbogenfarben angemalt, die gefiel mir besonders. Das löste so ein warmes Gefühl in mir aus, ich fühlte mich einfach willkommen. Die restlichen Wände waren fast alle mit Postern, Plakaten und Fahnen vollgehangen - viele hatten politische Symbole oder Sprüche drauf und bei vielen davon wusste ich gar nicht so richtig, was sie bedeuteten. Das ließ mich daran zweifeln, ob ich hier überhaupt richtig war.

Nami beobachtete mich. "Und, was denkst du? Gefällt es dir hier?", fragte sie. "Ja, ist echt schön. Besonders gefällt mir die Wand.", ich deutete auf die Wand in Regenbogenfarben. "Ach, die", lachte sie, "die war ein ganz besonderes Herzensprojekt von Luke. Er hat sie fast komplett alleine gestrichen."
Luke war also vermutlich auch queer. Ich freute mich darüber. Mehr, als ich es wahrscheinlich sollte. Aber ich kannte sonst niemanden außer mir, der noch Teil der LGBTQ+ Community war. Vielleicht konnten Luke und ich ja sowas wie Freunde werden.
"Du Nami, was macht ihr eigentlich immer hier, im "Zentrum"?", fragte ich das Mädchen neben mir.

"Hm, das ist ganz unterschiedlich. Oft treffen wir uns einfach nur zum chillen hier. Caro, die Jüngste von uns, macht auch gerne ihre Hausaufgaben hier und Esra hilft ihr manchmal dabei." Nami deutete in die Ecke des Raumes, wo Caro und Esra an einem Tisch saßen und vertieft über ein Schulbuch gebeugt waren. Die zwei hatte ich bisher noch gar nicht bemerkt. Nami redete weiter: "Oft beschäftigen wir uns aber auch mit politischer Arbeit. Dann planen wir Aktionen wie das Sprayen, überlegen, wie wir die linke Szene hier größer machen können oder designen Flyer und Plakate für Infoveranstaltungen oder Diskussionsrunden, die manchmal abends hier stattfinden.
Grundsätzlich ist das hier aber einfach ein Ort, der allen offen steht. Hier kann man hinkommen, wenn sonst nichts hat. Wenn jemand zum Beispiel von zu Hause rausgeworfen wird und kurzfristig einen Platz zum Schlafen braucht, dann steht unsere Tür immer offen. Da interessiert es dann auch niemanden, wo du herkommst, wie alt du bist und sowas. Mensch ist Mensch."

Nami und ich haben uns dann noch eine ganze Weile unterhalten. Mir gefällt das Konzept des Zentrums sehr, ich finde, solche Orte sollte es öfter geben.
Später ist dann auch noch Luke ins Zentrum gekommen, mit ihm haben ich auch noch eine Weile geredet. Ich mag Luke.

Ach Jo, ich würde dir gerne noch mehr erzählen, aber das mache ich morgen. Jetzt bin ich echt müde es ist wirklich spät geworden.

- Alex

Teenage Anarchist [boyxboy] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt