≫ Brief 7

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Jo,

es ist schon nach Mitternacht aber ich schreibe jetzt trotzdem noch, es ist einfach so viel passiert. Mein Kopf ist so voller Gedanken, ich fühle mich, als würde ich gleich explodieren.

Heute war die Aktion. Punkt 19 Uhr war ich im Zentrum, die anderen waren schon da. Es lag spürbar Anspannung in der Luft, aber nicht so wie nach einem Streit, eher wie bei einem spannenden Fußballspiel oder so. Also positive Anspannung.

Ich war vermutlich noch angespannter als alle anderen, aber gleichzeitig freute ich mich wirklich. Auch auf das Sprayen, mit Luke zusammen hatte ich ein Design erarbeitet, das wir an die Wand bringen wollten. Da kam mir auch meine Leidenschaft, das Zeichnen zugute. Luke hatte mir dann noch an einer der Außenwände des Zentrums gezeigt, wie man mit den verschiedenen Spraydosen umging, da ich damit erst einmal im Schulunterricht gearbeitet hatte.
Jetzt fühlte ich mich mehr als bereit.

Zusammen liefen wir vom Zentrum aus los, Spraydosen, Einmalhandschuhe (damit keine verdächtigen Farbflecken an unseren Händen zurückblieben und um Fingerabdrücke an den Spraydosen zu verhindern, falls wir unerwartet flüchten und die Dosen zurücklassen mussten), Sturmhauben und Bandanas im Gepäck. Raus aus dem Wald, über den Feldweg, an der Kaserne trennten wir uns schließlich.
Caro, Ezra, Nami und Monte gingen nach rechts, Luke und ich nach links.

"Auf geht's.", sagte Luke. Zügig gingen wir die letzten paar Meter bis zum Mühlenhof, wo wir uns unsere Handschuhe und Kopfbedeckungen anzogen.
Geschützt durch die einbrechende Dunkelheit und das Kasernengebäude, machten wir uns an die Arbeit.
Wir waren gut vorbereitet und so kamen wir mit unserem Gemälde gut voran. Unsere Sprühdosen flogen geradezu über die Wand.

Luke verpasste unserem Werk gerade den letzten Feinschliff, während ich mich mal wieder unruhig umsah. "Hast du Angst?", fragte Luke leise. Ich nickte zaghaft. "Wir sind eh gleich fertig. Uns beobachtet schon nieman-", wollte er mich beruhigen, doch weiter kam er nicht, denn eine Männerstimme - ich konnte nicht genau erkennen, woher sie kam - brüllte: "Ey, scheiß Zecken! Verpisst euch!" Dann ging es sehr schnell. Luke rief "Fuck", ließ seine Spraydose fallen, packte mich am Arm und rannte los.

"Wer war das?", fragte ich außer Atem, während ich versuchte, mit Luke Schritt zu halten. Er war ganz schön schnell. "Ein Nazi... Nur Nazis nennen Linke Zecken.", antwortete er und schob ein "Und red nicht, lauf!", hinterher.
Wir waren mittlerweile in eine Seitenstraße abgebogen, wo Luke mich zwischen zwei große Müllcontainer zog. Komplett aus der Puste setzten wir uns auf den Boden, es war ganz schön eng aber gerade machte mir das überhaupt nichts aus. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir nicht gefallen würde, so dicht an Luke zu sitzen.

"Du zitterst ja total, ist dir kalt?", bemerkte er. "Nee, ist die Aufregung.", flüsterte ich zurück. Aufregung war nett ausgedrückt, ich hatte scheiß Angst. "Stimmt, blöde Frage. Hätte ich auch selbst draufkommen können.", meinte Luke mehr zu sich selbst. Dass ich Angst hatte, bemerkte er wohl auch, denn er nahm meine Hand und drückte sie, während er "Das wird schon, ich pass auf dich auf", murmelte.

Plötzlich fühlte ich mich sehr viel sicherer. Luke passte auf mich auf. Ich war nicht allein. Egal, was passierte, Luke war bei mir.
Er hielt immer noch meine Hand und was würde ich mir nur wünschen, keine Handschuhe zu tragen. Doch trotz der dünnen Latexschicht, die unsere Haut trennte, fühlte es sich sehr gut an.
Wir verweilten für einige Minuten in unserem Versteck, ehe Luke vorsichtig den Kopf zwischen den Mülltonnen heraussteckte und meinte "Ich glaube, es ist sicher." Schade, ich hätte gerne noch länger mit Luke "gekuschelt".

Mit seinen kräftigen Armen zog er mich hoch und wir machten uns auf den Weg zurück zum Zentrum.
"Fuck, war das aufregend.", sagte ich, als wir durch den Wald liefen. "Aber irgendwie auch genial, oder?", wollte Luke wissen. Er hatte mittlerweile seine Sturmhaube abgenommen und so konnte ich sein hübsches Lächeln wieder sehen. "Ja, das auf jeden Fall auch. Definitiv nicht meine letzte Aktion.", meinte ich. "Vorausgesetzt, du willst mich noch weiter dabei haben.", schob ich vorsichtig hinterher.
Luke schüttelte ungläubig den Kopf. "Klar, du hast dich super geschlagen. Außerdem kannst du super zeichnen, künstlerisches Talent können wir immer brauchen!", lachte er.

Im Zentrum angekommen, war von dem Rest der Crew noch weit und breit nichts zu sehen. Erschöpft fiel ich auf eines der Sofas, Luke plumpste neben mich. "Es hat wirklich Spaß gemacht mit dir heute, Alex.", sagte er. "Kann ich nur zurückgeben, Luke."
Und dann war sie wieder da, die Stille. Keiner wusste mehr, was er sagen sollte und wir schwiegen uns einfach nur an. Aber es fühlte sich so gut an. Es fühlte sich richtig an, hier neben ihm zu sitzen und seine Anwesenheit zu spüren. Die Zeit fühlte sich unheimlich kostbar an.

Ich bemerkte, wie er mich beobachtete.
Nach einer Weile griff er nach meiner Hand, vorsichtig strich er mit seinem Daumen darüber. Ich ließ es geschehen. Die Handschuhe waren längst ausgezogen.
"Alex, ich möchte etwas ausprobieren.", flüsterte er plötzlich und beugte sich zu mir. Fragend sah ich ihn an. Im nächsten Moment waren seine Lippen auf meinen.

Irritiert wich ich zurück. Sofort konnte ich die Verletztheit in seinen Augen sehen. "Fuck, Alex, sorry, ich wollte nicht- ich hab keine Ahnung, was in mich gefahren ist.", entschuldigte er sich. Ach, halt doch die Klappe, dachte ich mir und presste mit einem Lächeln meine Lippen wieder auf seine und bewegte sie sanft. Nach einer Weile lösten wir uns. "Du darfst mich nur nicht so erschrecken.", raunte ich ihm zu. "Sorry.", murmelte er. "Schon vergessen."

Wir haben uns geküsst. Es war mein erster Kuss mit einem Jungen.
... Okay, es war mein erster Kuss überhaupt.
Und er hätte kaum mit einem wundervolleren Menschen sein können.

Ach Jo, ich bin so glücklich. Mein Kopf ist voller Gedanken und ich möchte am liebsten noch ewig hier an meinem Schreibtisch sitzen und über den Tag heute nachdenken. Aber ich bin langsam so müde, dass ich fast im Sitzen einschlafe.
Also mache ich lieber morgen damit weiter, über heute nachzudenken.
Ich bin so glücklich.

- Alex

Teenage Anarchist [boyxboy] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt