I - Wo bin ich und warum ist hier Meer?

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„You think I'd crumble?
You think I'd lay down and die?
I no, not I, I will survive
Oh, as long as I know how to love, I know I'll stay alive.
I've got all my life to live
And I've got all my love to give an I'll survive
I will survive."
~Gloria Gaynor

Es war mir bisher einmal erst untergelaufen, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, wo ich war. Es war die Party für Erstsemester und zu glauben, dass ich mit weniger als einer stattlichen Menge Alkohol in meinem unschuldigen Blutkreislauf nach Hause kam, war eine fatale Fehleinschätzung gewesen. Damals hatte ich Gott sei Dank Aenna kennengelernt, meine heutige beste Freundin, die mich und einen großzügigen Eimer sicher in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim abgeladen hatte.
Jedenfalls wurde ich jetzt daran erinnert, nur dass es auf einer ganz anderen Ebene unangenehm war. Mir war nicht nur schwindelig, sondern auch arschkalt. In meinem linken Bein spürte ich einen pulsierenden Schmerz, der es dank der Temperaturen irgendwo im Arktis-Bereich nicht ganz bis zu meinem Hirn schaffte. Mein gesamter Körper war nass und die Kleidung klebte an mir, als hätte mich jemand in die Alster geworfen. Panisch riss ich die Augen auf und sah... wieder nichts. Klasse, richtig super.
Ich wollte an meinem Atem riechen, um zu checken, ob ich getrunken hatte - nur zur Erinnerung: Ich HATTE keine Erinnerung - da patschte ich mir eine feuchte Ladung Matsch ins Gesicht - jedenfalls hoffte ich, dass es nur Matsch war.
Wasser. Salzige Luft. Rauschen.
An mir zogen Fetzen von Erinnerungen vorbei, die ich nicht festhalten konnte.
"Baah.", rief ich. Ich wollte den Schmutz mit dem Ärmel abwischen, aber auch dieser war voller feuchtem Dreck. Erschrocken setzte ich mich auf, mein Kopf dröhnte bedrohlich. Ich griff um mich herum und fasste in Schlamm. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts und bemerkte, dass ich umgeben war von dem Zeug. Aber nach einem genauen Check stellte ich erleichtert fest, dass man mich nicht aus Spaß in einen Schweinestall vor Hamburg geschmissen hatte.
So etwas Boshaftes hätte auch niemand, den ich kannte, getan. Aber wo zur Hölle war ich dann?
Ächzend griff ich mit meinen Händen in den Matsch un zog mich auf alle Viere. Mein Oberschenkel sandte eine Welle von Schmerzen aus, die jeden anderen Gedanken verbannte und mich aufschreien ließen. Ich traute mich nicht, nachzuforschen, woher der Schmerz kam - viel zu groß war die Angst, etwas noch viel Schlimmeres zu entdecken.

Auf allen Vieren bewegte ich mich stöhnend vorwärts, doch schon nach wenigen Sekunden wurden meine Finger von Wasser umspült. Ich erkannte es schemenhaft, denn netterweise gewöhnten meine Augen sich langsam an die Dunkelheit. Erleichtert wischte ich mir damit über den Mund, doch als ich schließlich mit der Zunge über die Lippen fuhr, erstarrte mein Körper. Das Wasser schmeckte nach Salz. In der Alster gab es kein Salz. In der Elbe auch nicht.
Erst jetzt hörte ich richtig hin. Das Geschrei der Möwen hatte ich ignoriert, denn sowas lief einem in Hamburg öfter über den Weg. Aber da war dieses laute Rauschen, dass mich langsam in den Wahnsinn trieb.
Es war verdammt anstrengend, seinen Standort herauszufinden, wenn man nicht mehr als bloß Wasser sah.
"Wo zur Hölle bin ich?!", schrie ich so laut ich konnte. In mir stieg ein Batzen Wut auf. Ein ziemlicher Kavantsmann von Batzen.
Leider kam meine Stimme nicht gegen den Wind an. Das war doch nicht normal, dass der Wind mitten im Innenland im Spätsommer so stark war. Es sei denn, ich war gar nicht im Innenland und das Rauschen kam vom...
"Meer.", sagte ich kraftlos. Verwirrt richtete ich mich auf, mein verfrorener Körper wehrte sich mit einer Schwindelattacke. Ächzend hievte ich das schmerzende Bein in die Senkrechte. Jetzt sah ich es auch, den Horizont, der an den Sternenhimmel anschloss.
Endlich gab die dicke Wolke den Mond frei, der nun beinahe bezaubernd auf der Wasserdecke glitzerte - ganz anders, als meine Stimmung.
War ich an der Nordsee oder an der Ostsee? Beides war weit entfernt, das konnte ich niemals allein in einer Nacht geschafft haben.
Das Wasser umspülte nun meine Zehen.
Momentchen, egal, ob das jetzt die Nordsee, Ostsee oder der verdammte Pazifik war, es gab den Mond und die Gezeiten und wenn die Flut kam, sollte ich jetzt besser die Beine in die Hand nehmen.
Ich drehte mich um und starrte auf eine Wand aus Felsen, etwa 100 Meter weit entfernt.
"Was zum...?", sagte ich, aber es war jetzt keine Zeit fürs Wundern, denn eine Felswand und die Flut und ein versifftes Mädchen mit Filmriss dazwischen war eine Situation, die tendenziell nicht zu Gunsten des Mädchens ausging.
Ich humpelte los und hob so schnell es ging ein Bein vor das andere. Scheiß auf die Steine, scheiß auf meinen Kopf, scheiß auf mein Bein, das mittlerweile taub vor Schmerzen war! Ich brauchte jede Sekunde, um einen verdammten Weg über die Felsen zu finden.
Nun stand ich atemlos vor der Wand und sah nach links. Der Mond schien auf das Ende der Bucht, vor der ich ich aufgewacht war, etwa 200 Meter entfernt, wo das Wasser schon fast die Hohe Säule aus Gestein erreicht hatte, die durch die Jahrtausende vom Rest der Klippen getrennt worden war. Sie erinnerte mich fast an einen riesigen Schornstein.
Lachen. Geborgenheit.
In meinem Inneren klingelte etwas. Mein Unterbewusstsein schien mir zuzuschreien, dass dahinter der rettende Aufgang war. Und da mein Überlebensinstinkt mich selten getäuscht hatte, rannte ich drauf los.

Faded - Erinnere Dich!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt