III - Ein ziemlich bescheidendes "Welcome Home"

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„Memories, good days, bad days
They'll be with me always
In these old familiar rooms
Children would play
Now there's only emptiness
Nothing to say"
~ABBA

"Ich lasse dich heute ganz sicher nicht allein.", sagte er streng.
"Idris, glaub mir, ich bin schon ein großes Mädchen. Und außerdem wurde ich offiziell entlassen.", motzte ich zurück.
"Ja, du hast recht, ein großes Mädchen, das sich nicht mehr daran erinnern kann, was die letzten 3 Tage passiert ist. Mal ganz davon abgesehen, dass ich dich mit einer Gehirnerschütterung und einer Wunde am Bein unbeaufsichtigt lassen würde."
Bockig und genervt fiel ich auf das Sofa zurück. Ich war wohl doch kein so großes Mädchen.
Nach zwei Tagen im Krankenhaus hatte Idris mich gerade zu sich genommen, wo ich nun endlich mein Handy anschließen konnte. Er lebte in einem kleinen Cottage etwas abseits von High Castle, aber dafür unmittelbar in der Nähe des Strandes.
"Kannst du mich wenigstens zu Grannys Haus fahren? Ich muss wissen, ob ich da gewesen bin."
Idris seufzte. Er schien erschöpft zu sein, mindestens genauso sehr wie ich es war, denn seine sonst so gerade Haltung war etwas zusammengesackt. Aber er nickte und holte einen Schlüsselbund aus seiner Jackentasche hervor.
"Komm her, du brauchst Schuhe." Er winkte mich zum Ausgang. Vor dem kleinen Schuhregal waren eine ganze Reihe von Schuhen aufgestellt, aber ein paar bordeauxroter Gummistiefel stachen heraus.
"Die sollten dir passen.", sagte Idris und stellte sie mir hin. Tatsächlich taten sie das und in mir breitete sich ein Gedanke aus, der mir vorhin schon gekommen war.
Idris stützte mich und so humpelten wir zwei zu seinem Jeep.
Auf seinem Beifahrersitz fiel mir auf, dass ich seinen Wagen vor drei Tagen ordentlich eingesaut hatte. Im Fußraum erspürte ich einen Batzen Stoff, der meinen Füßen im Weg lag.
„Das ist mein Neoprenanzug. Du kannst ihn auf die Rückbank legen." Ich tat wie mir geheißen und blickte schließlich wieder in den Fußraum. Diese Stiefel, die offensichtlich für Damen waren, erinnerten mich an jemanden.

Nach wenigen Minuten Fahrt standen wir auf der großzügigen runden Auffahrt vor dem herrschaftlichen Cottage; Cliff House, das einst meiner Grandma gehört hatte und in dem ich aufgewachsen war. Offiziell gehörte es seitdem mir. Der Dauerauftrag, den ich einer örtlichen Gartenfirma nach Grannys Tod gegeben hatte, wurde offenbar gut ausgeführt, denn der kleine Rosengarten und der Rasen sahen gepflegt aus. Das hätte meine Großmutter so gewollt.

Die Strecke von Idris hierher hätten wir ohne mein Beinproblem auch zu Fuß laufen können - wahrscheinlich sogar über den schönen Klippenweg.
Als ich ausstieg hörte ich das Meer, dass an den Felsen schlug, nur etwa 50 Meter vom Cottage entfernt. Von hier aus hatte man eine fantastische Aussicht auf den Horizont, wobei der Übergang zwischen dem azurblauen Meer und dem klaren Himmel nur schwer zu erkennen war.
Der Geruch des Atlantiks stieg in meiner Nase hoch - wie in der Nacht vor drei Tagen. Vor meinem inneren Auge blitzte etwas auf.
Was war das gewesen?
Die Bilder trübten meinen Gleichgewichtssinn und ich stützte mich aufkeuchend auf der Motorhaube des Jeep ab.
Idris' kritischer Blick ging nicht an mir vorbei.
"Alles okay!", versuchte ich zu beschwichtigen. "Ich bin nur zu schnell aufgestanden."

Vor der Haustür griff mein alter Schulfreund zu einem größeren Stein im Kieselbett und zog einen Haustürschlüssel aus einem Loch an der Unterseite hervor.
"Woher wusstest du das?", fragte ich ihn verblüfft, während er die rechte Hälfte der Flügeltür aufschloss.
"Deine Grandma hatte doch immer einen Ersatzschlüssel hier drin. Das hast du mir damals erzählt. Ich habe ein passables Gedächtnis."
Daran konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
„Passabel ist gut.", meinte ich und dachte an die unzähligen Male, die er Bücher Wort für Wort zitierte und damit bei Diskussionen nervig akkurat war. „Aber fotografisch trifft es doch eher."
Idris sah mich aus unergründlichen Augen an. „Das wurde nie bestätigt. Und das brauche ich auch gar nicht. Mein Gedächtnis funktioniert. Das reicht mir völlig aus."
„Im Gegensatz zu Meinem.", murmelte ich, während wir durch die Tür gingen.
Ich trat ins Haus ein und mich überkam sofort ein Gefühl des Zu-Hause-Seins. Vom Eingangsraum aus konnte man durch den großen Durchbruch ins Wohnzimmer und die riesige Fensterfront auf den Ozean hinaus sehen. Auf der rechten Seite des Einganges ging die Treppe nach Oben. Im rechten Teil des Hauses war die Küche, links das Gästebad.
Idris durchbrach die Stille. "Ich habe das Gefühl, es wäre gestern gewesen, dass ich zuletzt hier war."
"Wen fragst du? Es ist alles genau wie früher."
Ich strich mit der Hand über den Boden im Eingangsflur. Verwundert sah ich meine Finger an.
"Es ist sauber...", murmelte ich.
"Was?", fragte Idris.
"Die Möbel. Sie sind nicht mehr abgedeckt, wie ich es bei meiner Abreise gemacht habe. Und der Boden. Er ist sauber. Anscheindend war ich die letzten Tage schon hier - und habe geputzt."
Während ich so lässig wie möglich versuchte, in die Küche zu humpeln, kramte mein Hirn verzweifelt nach irgendeiner Erinnerung an die letzten paar Tage. Denn wenn ich noch nicht hier gewesen war, dann muss es jemand anderes gewesen sein - jemand, der hier nicht sein dürfte.
Ich betrat die Küche, die noch den Charme alter Tage wiedergab. Der Anblick des alten Holztischs, an dem Granny immer gekocht hatte, verursachte ein Brennen in meinem Hals. Ich schluckte bedrückt, dann öffnete ich den Kühlschrank.
"Du hast gekocht?", fragte Iris.
Ich sah ihn fragend an und folgte seinem Finger zu einer durchsichtigen Dose gefüllt mit einer roten Flüssigkeit. Ich öffnete die Dose. Vorsichtig schnüffelte ich am Inhalt, aber es war eine völlig gewöhnliche Tomatensuppe.
"Die ist noch gut, die kann höchstens von Sonntag sein."
"Ich dachte immer, du kannst nicht kochen.", sagte er abwesend und inspizierte die Küche.
"Also eine Tomatensuppe würde ich schon noch hinkriegen - denke ich." Mir viel nichts Besonderes mehr auf, also humpelte ich aus der Küche und machte mich auf den Weg zur Treppe.
Idris hinter mir schnaufte. "Wenny, gemessen am Grad deiner Verletzungen schaffst du es nie die Treppe hoch."
"Na dann sieh mal genau hin." Ich klammerte mich an das Geländer und zog mich die erste Stufe hoch. Mein Bein streikte jetzt schon.
Als ich die vierte Stufe erreichte und versuchte, mir die Anstrengung nicht ansehen zu lassen, hüpfte Idris mir hinterher.
Jede weitere Diele, die ich erklomm, ging er mir mit Leichtigkeit nach. Bei der Hälfte der Treppe blieb ich genervt stehen - was den praktischen Nebeneffekt einer Pause hatte.
"Ich sagte, ich schaffe das!"
"Und ich glaube dir, dass du dafür bis zur Ohnmacht kämpfen würdest. Deswegen stehe ich ja neben dir."
Ich seufzte und stillschweigend erreichten wir den ersten Stock.
Automatisch ging ich in den rechten Flur und lehnte mich im Gehen an der Wand an, an der ein Haufen Portaits von Verwandten hingen, die ich nicht kannte.
Wir näherten uns der Tür am Ende des Ganges. Das helle Eichenholz war mit Messing beschlagen und hatte einen Türknauf in Form einer Sonne. Langsam drehte ich ihn. Das kalte Metall ließ meine Haut prickeln. Dieses Gefühl hatte ich nirgends anders. Genauso wie der alte Geruch des Gebäudes oder Grannys Lavendelparfüm. Es war einmalig. Es war meine Kindheit.

Faded - Erinnere Dich!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt