Make-Up

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Der Wecke klingelte und klingelte.

„Kimberly!", schrie die Mutter von unten, „Mach endlich diesen Wecker aus, Herr Gott noch mal!"

„Pff, boar! Meine Mum ...", begann die Teenagerin sich vor ihren Freundinnen zu rechtfertigen. „Sie hasst Justin Bieber. Obwohl er sooo süß ist!"

„Und wer hat ihn schon als Wecker? Außer du natürlich." Ihre Freundinnen gaben ihr immer recht.

„Eben. Uh, Celine, was für ein schickes Oberteil!" Auch Kimberly legte nicht zu wenig Schleim auf, wenn eine ihrer Freundinnen fertig war mit dem Fertigmachen.

Kaum war es ausgesprochen, sang Justin Bieber wieder los.

„Kimberly! Hör auf, dir für alle fünf Minuten einen Wecker zu stellen, wenn du schon seit zwei Stunden hellwach bist!", kam es wieder von unten.

„Soooorrrrryyyy! Aber woher sollen wir sonst wissen, wann die erste Schicht getrocknet ist?"

„Die erste Schicht?!" Fassungslosigkeit.

„Ja-a! Oder denkst du, wir könnten so gut aussehen mit dem bisschen?"

„Vielleicht ja mal ohne?", versuchte es die Mutter.

Verständnisloses Kichern über die Naivität einer Mutter war die Antwort.

„Wenn ihr meint ... aber beeilt euch etwas, die Schule fängt bald an!"

„Ja-a!", antwortete der Chor genervt.

Drei Schichten und zwanzig Akzentsetzungen später kamen die drei Mädchen, die älter aussahen als die 35-jährige Mutter, aber in Wahrheit nicht mal halb so alt waren, runter.

„Und, wie sehen wir aus?", schmunzelte die Wortführerin Kimberly aufgesetzt.

Der picklige George, wie Kimberly ihren älteren Bruder vor anderen nannte, kam wie immer mit einer dummen und wahren Antwort um die Ecke: „Als wärt ihr in eine Make-Up-Fabrik gefallen."

„Halt die Klappe, George! Du bist nur zu blöd, um das Schöne zu verstehen! Das Make-Up" – Kimberly gestikulierte besserwisserisch – „ spiegelt nämlich wider, wer man ist."

„Ein Waschbär?" George lief zum anderen Tischende, um den Kratzattacken seiner Schwester zu entkommen.

„Kinder, es reicht jetzt. Hier ist euer Essen. Kimberly, hast du deine Sachen für die Pyjamaparty bei Celine?"

„Ja-a, Mama. Tschüsssss, Mama!"

Die drei verließen, über Jungs und die Wichtigkeit des Aussehens redend, das Haus. Mutter und Sohn blieben alleine zurück.

„Würde deine Schwester die Zeit, die sie zum Haaremachen und Schminken braucht, in die Schule investieren ..."

Zusammen mit ihrem Sohn verzweifelte die Mutter.

Während die Mädchen in der Schule stillschweigend posierten, als würden sie Modell stehen, plapperten, schwatzten und kicherten sie zu Hause bei Celine über alle Lebewesen, die ihre Zeit mit anderen Dingen als schminken verbrachten.

Eine Stunde, bevor sie zu Bett gingen, quetschten sich die drei Freundinnen ins kleine Badezimmer, wo sie sich mühsam abschminkten – ein besseres Muskeltraining gibt es nicht.

Am nächsten Morgen wurden die drei nicht von Justins Stimme geweckt, sondern von Celines Schreien. Panisch und in hohen Tönen kreischen, fuhr die Clique hoch.

„Was ist, was ist?", quiekte die arme Kimberly immer und immer wieder. Aber ihre Freundinnen blieben ihr eine Antwort schuldig.

Genervt lief sie zum nächsten Spiegel, der in diesem Zimmer nicht weit entfernt war. Sie erstarrte. Ihre Haut, die einst so weich, rein und ungezeichnet war, war nun von einem grässlichen Ausschlag überseht: rote und grüne Pickel, gelbe Eiterblasen – ihr Gesicht war das Museum der Hauterkrankungen. Sofort und intuitiv griff sie zum Make-Up.

„Ein paar Schichten, dann ist es überdeckt!"

Doch kaum berührte sie die Haut, schmerzte es fürchterlich. Sogar eine der Eiterblasen platzte auf.

Kimberly wollte weinen, schreien, fluchen. Wo blieben ihre Freundinnen, ihre Make-Up-Assistentinnen?

Ihre Verzweiflung fand für eine Weile abrupt ihr Ende, als ihr Handy ein Piepton von sich gab. Auf dem kleinen, strahlenden Display befand sich ein Bild von ihr, schlafend mit einem Ausschlag im Gesicht. Darunter stand: „Und da soll noch mal jemand Beppsie Dona als hässlich bezeichnen!"

Ein weiterer Piep, und der Kommentar „Zeigt das mal den Bio-Leuten ... wir haben eine neue Krötenart entdeckt!" tauchte unter dem Bild auf. Weitere Pieptöne folgten mit weiteren Kommentaren – nicht nur die Schönheit hat Kimberly verloren, sondern auch die Freundinnen.

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