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Neuer Tag, neues Glück?
Nicht für Jimin.
Am liebsten wäre er beim Geräusch seines Weckers einfach im Bett liegen geblieben, hätte weitergeschlafen und einen weiteren Tag allein in der Wohnung verbracht, in der er mit seiner Mutter lebte.

Aber es half nichts. Er war schließlich stumm, nicht taub.
Darum stand er auf, fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und durch die Haare und stand dann auf, um sich fertig zu machen.

Jimins Mutter saß im Rollstuhl, seit dem Tag. Dem Tag des Unfalls.
Und seit diesem Tag hatte Jimin nicht mehr gesprochen. Er konnte es einfach nicht mehr. Zwar hatte er es oft versucht, doch war sein Hals jedesmal zugeschnürt, wenn er versuchte, einen Laut zu machen.

Anfangs dachte er, es wäre eine Strafe für ihn. Die Strafe dafür, dass er es nicht geschafft hatte, seinen Vater zu warnen.
Er hatte das andere Auto kommen sehen und wollte schreien, seinen Vater am Steuer warnen, doch er war nicht schnell gewesen, die Worte hatten seinen Mund nicht schnell genug verlassen.
Dafür gab er sich selbst die Schuld. Selbst jetzt noch.
Denn resultierend aus seiner Langsamkeit war der Fakt, dass seine Mutter jetzt gelähmt war und sein Vater tot.

All diese Gedanken ausblendend, sie alle in eine Schublade ganz hinten in seinem Bewusstsein schiebend, machte Jimin sich weiter fertig.
Es war der erste Schultag, sein erster Schultag nach dem Unfall.
Er hatte lange Privatunterricht gehabt, doch jetzt wollte seine Mutter, dass er sich mehr unter gleichaltrige mischte, und wo funktioniert das besser als in einer Schule voller Menschen?

Eigentlich wollte Jimin protestieren, doch seit dem Unfall wollte er sie nur noch glücklich machen und lächeln sehen, deshalb widersprach er nicht. Zu protestieren würde sie nur traurig machen und das war das letzte, was er wollte.
Darum hatte er zugestimmt und stand nun hier.

Als er fertig war, verließ Jimin das Bad und ging nach üben in die Küche, wo seine Mutter schon auf ihn wartete, das Frühstück auf dem Tisch.

„Guten Morgen, mein Schatz", sagte sie mit einem traurigen Lächeln. Sie hatte seit dem Tag nie wieder richtig gelächelt, sie versuchte nur, für ihren Sohn stark zu bleiben.
„Erster Tag in der Schule. Ist es da nicht verpflichtend, dass ich dir ein schönes Frühstück mache?"

Sanft lächelnd beugte Jimin sich zu ihr nach unten - er hatte sich vorher nie bücken müssen, um sie berühren zu können - und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange, bevor er sich hinsetzte und begann, das Essen in sich hineinzuwürgen.
Er konnte einfach nicht mehr viel essen, nichts mehr wirklich bei sich behalten, aber für seine Mutter war Jimin bereit, es immer wieder zu versuchen.
Und er schaffte es sogar, beide Pfannkuchen auf seinem Teller aufzuessen und danach seine Mutter wieder anzulächeln.

Dann ging eigentlich alles ganz schnell.
Das Geschirr wurde weggeräumt, Schuhe und Jacken angezogen, die benötigten Taschen für den Tag mitgenommen und dann verließen die beiden schon die Wohnung im Erdgeschoss.
Jimins Mutter hatte weiter dort gearbeitet, wo sie vorher angestellt gewesen war, denn dort verdiente sie gut und ihre Einschränkung veränderte nichts an der Qualität ihrer Arbeit.
Sie konnte sogar mit dem Rollstuhl dort hin fahren.

Jimin hatte zwar auf einem elektrischen Rollstuhl bestanden, damit sie sich nicht so abrackern musste, doch seine Mutter hatte das Geld lieber für seinen Privatunterricht und Therapien verwendet. Der Rest wurde gespart. Seine Mutter sparte immer, um ihrem Sohn seine Wünsche zu ermöglichen.

Ihre Wege trennten sich direkt vor der Haustür, Jimin umarmte seine Mutter ein letztes Mal und ging dann los zu der nächsten Bushaltestelle, wo ihn ein Bus in wenigen Minuten zu seiner neuen Schule bringen würde.

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Danke nochmal für das Cover an JiminsPurpleHeart 💜

Mute (YoonMin Shortstory)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt