1. Kapitel

39 11 3
                                    

Verdammter Wecker... Mit diesen Gedanken wachte Stella zwei Jahre später auf. Ihre langen, braunen Haare waren völlig zerzaust und klebten in ihrem Gesicht, während sie sich langsam aus den kuschligen Decken kämpfte, damit sie endlich den nervenden Wecker ausschalten konnte.
Neben ihrem Bett stand ein Foto von ihr und Samuel, ihrem Freund, der sie vor zwei Jahren alleine gelassen hatte. Irgendein alter Mann hatte wohl die Kontrolle über seinen Wagen verloren und musste danach natürlich Samuels Wagen treffen, damit dieser dann nur wenige Stunden später im Krankenhaus verstarb. So erzählte es ihr jedenfalls ein Polizist, der an ihrer Tür geklingelt hatte und ihr diese schreckliche Nachricht überbrachte, die ihr gesamtes Leben veränderte. Damit er ihr das einzige wegnahm für das sie eigentlich gelebt hatte. Ihren Samuel.
Stella würdigte dem Foto keinen Blick mehr, es war nur noch dazu da, damit sie es anschreien konnte, wenn sie mal wieder in ihren depressiven Phasen war, in denen sie Samuel dafür schuldig machen wollte, dass es ihr so mies ging. Es ging ihr zwar nicht wirklich mies, sie hatte genügend Geld, einen guten Job und sie hatte sich sogar eine neue Wohnung gemietet, kurz nachdem Samuel gestorben war.
Trotzdem litt sie immer noch unter dem Verlust ihres Freundes. Obwohl sie ihn jetzt schon zwei Jahre lang verloren hatte, ließ sie keine Person an sich ran und genoss ihr einsames Leben. Ihr Alltag war auch mehr wie eine Routine geworden. Jeden Tag machte sie immer das gleiche, damit sie versuchen konnte sich so zu ablenken von ihrem Leid, auch wenn es meistens nur gering half. Trotzdem achtete sie stets darauf immer zur selben Uhrzeit aufzuwachen, jeden Tag um die gleiche Zeit ihre morgendliche Joggingrunde zu machen und danach ihren langweiligen Bürojob auszuführen, bei dem sie in den Zahlen versinken konnte. Diese Routine gab ihr das Gefühl, dass sie trotz dem Verlust von Samuel immer noch ihr Leben unter Kontrolle hatte, so wie er es sich immer gewünscht hatte.
Auch heute lief es nicht anders ab. Sie zog ihre Sportsachen an, setzte ihre Kontaktlinsen auf ihre blauen Augen und aß schließlich hastig ein Müsli. Ihre Wohnung war aufgeräumt und obwohl man sich große Sorgen um sie machte, weil sie vielleicht eine Süchtige werden konnte, fand man keinen Alkohol und keine Drogen bei ihr. In der ersten Zeit nach Samuels Tod war es praktisch gewesen alles mit ein paar Schlucken Alkohol zu vergessen, doch jetzt zwang sie sich selber dazu, dass sie ihre Leiden nicht in Alkohol ertränkte, der sie in einen noch schlimmeren Zustand brachte. Drogen hatte sie noch nie genommen, zu sehr hatte sie Angst vor deren Wirkung.
Für Außenstehende wirkte sie wie eine junge, starke Frau, die ein normales Leben führte, auch wenn sie manchmal ein bisschen zu streng ihrer Routine folgte. Sobald aber jemand eine tiefere Bindung mit ihr eingehen wollte, lehnte sie sofort alles ab und verschloss ihr Herz, das immer noch wegen Samuel gebrochen war. Nachdem sie stundenlang an Samuels Totenbett gesessen hatte und sich die Seele aus dem Leib geweint hatte, hatte sie sich geschworen, dass sie niemals wieder jemanden lieben wollte.
Die psychische Hilfe hatte ihr gesagt, dass sie mit ihrem Leben fortfahren sollte, irgendwann würde sie wieder glücklich sein und froh sein, dass sie Samuel überhaupt kennenlernen durfte. Das alles klang für sie aber so, als wäre Samuel nur ein unwichtiger Part in ihrem Leben gewesen, der dafür da gewesen war, damit sie dann ihre noch perfektere Beziehung finden konnte.
Stella schnaubte leise auf, als sie an diese Worte dachte, während sie ihre Schuhe zuschnürte. Sie wollte gar keine neue Beziehung, sie wollte einfach nur, dass Samuel stolz auf sie sein konnte, weil sie ihr Leben immer noch völlig im Griff hatte, auch wenn er jetzt nicht mehr da war. Samuel meinte immer, dass Stella gerne Herausforderungen annahm und sie danach auch gerne meisterte und langsam glaubte auch Stella daran. Sie hatte sich vorgenommen nie wieder jemanden zu lieben, damit sie alleine bleiben konnte, zu Samuels Ehren. Sie war stur darin wirklich nicht aufzugeben und bis jetzt hatte sie es auch gemeistert. Trotzdem war auch ein Grund keine Beziehung mehr einzugehen, dass sie nie wieder so leiden wollte, wenn sie jemanden verlor. Sie wollte nie wieder den Schmerz fühlen, als sie erfahren hatte, dass ihr geliebter Samuel im Krankenhaus in seinen letzten Atemzügen lag.
Ruhig sah sie kurz in den wolkenverhangenen Himmel hinauf, als sie aus der Haustür trat, bevor sie leise seufzte. Es würde wahrscheinlich bald regnen, weshalb sie sich beeilen musste. Sie wollte nicht mit nassen Sachen durch die Gegend joggen und vor allem musste sie sich danach beeilen, damit sie pünktlich zur Arbeit erschien.
Sie setzte ihre Kopfhörer auf und joggte danach los. Bald schon nahmen ihre Bewegungen einen gewohnten Rhythmus an und sie konnte ihren Kopf einfach mal abschalten. Sie konzentrierte sich nur noch auf die Bewegung und auf die Musik, die aus ihren Kopfhören erklang. Sie lief dieselbe Strecke ab, die sie damals auch schon vor zwei Jahren zum ersten Mal gerannt war, damals natürlich wie eine wandelnde Leiche.
Jedes Mal fühlte sie sich freier und später konnte sie sich dann besser entspannen, auch wenn ihr allmählich bewusst wurde, dass sie die Route immer schneller hinter sich brachte als bei den letzten Malen. Wahrscheinlich erinnerte sie die Route zu sehr an Samuel und deshalb wollte sie immer so schnell wie möglich wieder zu Hause sein, damit sie sich wieder besser ablenken konnte.
Stella hielt schließlich an, um bei einer roten Ampel zu warten. Es war früh am Morgen, der Grund wieso niemand unterwegs war, weshalb sie einfach die Straße überquerte, obwohl sie warten sollte.
Als sie etwa die Hälfte der Straße überquert hatte, hörte man in der Nähe quietschende Reifen. Es klang so, als ob sich jemand in den frühen Morgenstunden ein Wettrennen lieferte. Ein roter Sportwagen raste schließlich in voller Geschwindigkeit auf sie zu, was ihre Vermutung bestätigte. Es sollte wahrscheinlich furchteinflößend wirken und die Leute verjagen, doch Stella schnaubte nur unzufrieden auf und dachte gar nicht daran die Straße schneller zu überqueren, damit der Wagen wieder freie Bahn hatte.
Etwa zehn Meter vor Stella bremste der Fahrer schließlich ab und blieb kurz vor Stella stehen. Wäre der Wagen auch nur einen Meter weitergefahren, wäre Stella wahrscheinlich umgefahren worden, doch Stella schien das gar nicht zu stören. Sie wollte diesem Idioten zeigen, dass er solche Wettrennen lassen sollte und vor allem, dass er sie nicht bei ihrer Routine stressen sollte.
Wütend funkelte sie den Fahrer an, der etwa auch wie sie 22 Jahre alt war. Er hatte schwarze Locken und sah eigentlich ziemlich heiß aus, doch er hatte gerade beinahe Stella überfahren, weshalb sie ihn nur böse ansehen konnte und schließlich ihren Mund aufmachte, damit sie ihre Wut an diesem Fahrer auslassen konnte, doch sie blieb mitten in der Bewegung stehen und erstarrte. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, als sie die Pistole sah, die der Fahrer durch das aufgeklappte Autodach auf sie richtete.

Die plötzliche Erschrockenheit verwandelte sich wieder in Wut und Stella verschränkte nur die Arme vor der Brust. „Zuerst beinahe umfahren und dann doch erschießen?", fragte sie schnaubend nach und erwiderte den wilden Blick des Mannes. Wahrscheinlich hatte Samuels Tod sie so sehr abgestumpft, dass sie kaum noch Angst vor sowas hatte. Sollte der Tod doch kommen, dann konnte sie endlich wieder bei Samuel sein. Wenigstens hätte sie noch etwas Spaß mit diesem Mann gehabt, der ihr gerade die Pistole auf den Körper richtete, indem sie ihn noch etwas provozierte.

Der Mann schien ihr aber gar nicht zuzuhören. Er grinste böse und musterte sie kurz von oben bis unten. „Niemand stellt sich mir in den Weg.", sagte er schließlich ganz ruhig, nachdem er sie gründlich abgescannt hatte. Er sah sie jetzt eher gelangweilt an und schien danach seine Waffe interessiert zu mustern, damit er die Möglichkeiten, wie er Stella am besten erschoss, abwägen konnte. Stella schien das als Ablenkung zu sehen und wollte wegrennen, doch das entpuppte sich als verdammt beschissene Idee. Es wäre sicher witzig gewesen, wenn dieser Mann sie jetzt noch kurz vor ihrem Tod jagen würde, damit sie wenigstens noch eine unterhaltsame Verfolgungsjagd gehabt hätte. Doch bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, lachte der Mann mit rauer Stimme und Stella hörte das Klicken der Pistole, als er abdrückte.

StayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt