~8.Creatura Mutans~

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Eine groß gewachsene, schlanke Frau kam erhobenen Hauptes auf uns zugeschritten. Sie trug ein bodenlanges Kleid, welches in dem selben Eisblau wie auch ihre Augen schimmerte. Unmengen an Macht strahlte ihr Auftreten aus und allein schon ihre Präsenz ließ Ally und Liam neben mir erstarren. "Kayla, Liebes, wie geht es deinem Knöchel?", erkundigte sie sich freundlich, der kalte Unterton in ihrer Stimme war verschwunden. Ich runzelte die Stirn. Meinem Knöchel? Erst dann fiel es mir wieder ein. Auf meiner rasanten Flucht war ich über eine Wurzel gestolpert und hatte mir aufgrund dessen den linken Knöchel verdreht. Argwöhnisch bewegte ich meine Zehen und drehte meinen Fuß in meinem Sneaker hin und her. Er fühlte sich vollkommen normal an, kein Brennen und Ziehen, das mein Bein hinaufjagte. Ich begegnete ihrem Blick und sie schenkte mir ein wissendes Lächeln, was mich seufzen ließ. Es nützte nichts. So oder so würde ich keine Antwort erlangen. Um so mehr erstaunte es mich, als sie das Wort ergriff: "Ich bin Deliah, und mir gehört dieses Grundstück." Überrascht hob ich eine Augenbraue. Noch eine weitere Gestaltenwandlerin? Sicherheitshalber verglich ich ihre glatten, goldschimmernden Haare mit Allys glänzend kupferfarbenen Locken und Liams zerzausten, blonden Schopf, welcher stark in Richtung Braun tendierte. Mehrere unergründliche Fragen schossen mir in dem Moment durch den Kopf. Ein Strudel der Verwirrung legte sich über mich, vernebelte meine Sinne. - "Nein, nein!", beruhigte Deliah mich, wie als schien sie meine Gedanken gelesen zu haben. "Also bist du keine..äh..Gestaltenwandlerin?", traute ich mich zögernd zu fragen. Deliah lächelte und entblößte eine Reihe perfekt weißer Zähne. "Du kannst es natürlich auch so ausdrücken. Ich schlage vor, wir unterhalten uns in meinem Haus weiter." Somit wand sie sich ab und glitt geschmeidig auf die Tür zu, das lange Kleid über den Boden schweifend. "Deliah, warte!" Langsam drehte sie ihren Kopf in meine Richtung und fixierte mich. Ich wand mich aus der Umklammerung der Geschwister. "Ist es dir nicht auch verboten, mir alles zu erzählen?", fragte ich sicherheitshalber, um mir keine falschen Hoffnungen zu machen. Vorsichtig lugte ich zu Liam, der leichenblass da stand und Ally, die uns verwunderte Blicke zuwarf. "Wie bitte? Wer hat die Unverfrorenheit, dir so etwas für die Wahrheit zu verkaufen." Deliahs Augen funkelten zornig, während ich trotz der ernsten Situation über ihre Wortwahl schmunzelte. Sie schien kaum älter als wir zu sein, sprach aber, wie als lebte sie im 17. Jahrhundert. Schließlich seufzte sie gedehnt auf. "Liam", sagte sie mehr zu sich selbst, beantwortete somit ihre eigene Frage und mit einer Handbewegung, welche keinen Widerspruch duldete, deutet sie uns, ihr zu folgen.

Immer wieder musste ich mich vergewissern, dass mit meinem Knöchel alles in Ordnung war. In all dem Chaos hatte ich meine Verletzung und die Ereignisse des vergangenen Tages verdrängt. Mein Herz zog sich beim Gedanken an Ashs gebrochenem Blick zusammen. Dies war schlimmer, als ein verstauchter Knöcheln, denn er ließ sich heilen, mein Herz nicht.

Wie schnell sich das Leben doch ändern konnte, es nahm seinen Lauf, ohne auf die Folgen zu achten, es bestimmte uns, wie waren ihm unwiderruflich ausgeliefert. Jede Faser meines Körpers sehnte die Vergangenheit herbei, das Gefühl, geliebt zu werden und die tiefe Geborgenheit, die ich verspürte, wenn ich mit mit Melissa zusammen war. Ich blieb stehen. "Melissa", wisperte ich entsetzt. Gestern war ich Hals über Kopf Liam gefolgt. Bestimmt machte sie sich Sorgen. Wurde ich im Waisenhaus bereits als 'vermisst' gemeldet??? Mein Herz zog sich beim Gedanken daran zusammen, dass Melissa nun einsam in unserem Zimmer saß und auf mein leeres Bett starrte. Ich wusste, wie sehr sie Angst davor hatte, allein gelassen zu werden. "Kayla, es ist alles geregelt." Deliahs kalte Stimme, reglos und ohne Gefühle, brachte mich zurück in die Gegenwart. Ich nahm ihre Worte nicht für wahr, allerdings konnte ich auch nicht handeln. Wohl oder Übel musste ich mich später um Melissa kümmern. "Aber-", setzte ich an, doch Ally legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte mich sanft. Dankbar lehnte ich mich an sie. Es tat gut, körperliche Wärme zu spüren und ich atmete ihren süßen Duft nach Flieder im Frühling ein. Wider meiner Erwartungen roch sie nicht animalisch nach Pferd. Leise drang Deliahs Lachen an mein Ohr, fast schon spöttisch. "Was dachtest du denn?" Ich erstarrte. Hatte Deliah eben meine Gedanken gelesen, oder bildete ich mir dies bloß ein? -"Ja, Liebes, ich bin durchaus fähig dazu." Ein amüsantes Grinsen umspielte ihre Mundwinkel und ließ mich erschaudern. Liam trat neben mich, sodass ich sehen konnte, wie seine Brust sich unter Anstrengung hob und senkte. "Verschon sie bitte...ich..." Verzweifelt sah er in Deliahs Augen, die aufblitzten. "Wie stellst du dir das vor, Liam, nachdem was du angerichtet hast? Ihr wurde schon zu viel von unserer Welt preisgegeben, und sie ist nun auch ein Teil davon. Ich werde es in die Hand nehmen, ihr die Wahrheit anzuvertrauen." Sie taxierte ihn mit einem typischen Große-Schwester-Blick, unter welchem er einknickte. Ich war aufgeregt und verdrängte alle aufkommenden Gedanken. Endlich würde ich alles verstehen.

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