23~ Vom Festhalten und Loslassen

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Sommer 2019
Stella

Die Welt fühlt sich an wie in Watte gepackt. Ohne Chloe, die aus unserem Zimmer ausgezogen ist, ohne ein Wort zu sagen, fühlt es sich an, als würde mir der Sauerstoff entzogen werden. Ich fühle mich allein.
Ohne Chloe ist es nicht das selbe.
Die Leichtigkeit des bretonischen Sommers ist einer Schwere gewichen, und das, obwohl die Sonne nach wie vor intensiv vom blauen Himmel scheint. Zumindest dann, wenn es nicht regnet.
Ohne Chloe fühle ich mich wie eine leere Hülle, die in sich zusammenfällt.
Der Sommerregen fühlt sich nur noch kalt und unsanft an.

Direkt nachdem sie James, der einfach so aufgetaucht ist, als hätte ihm jemand Bescheid gesagt, geküsst hat, bin ich gegangen.
Der Schmerz, dass sie mich einfach so gegen ihn auswechseln wollte, hat mich gelähmt.
Ich bin austauschbar.
Ich weiß nicht einmal, ob sie mich jemals geliebt hat.
War alles von Anfang bis Ende eine Lüge? Vielleicht eine gemeine Wette, die sie mit Lucie oder Justine geschlossen hat?

Nach dem Motto Mach dich über das kleine, dumme Außenseitermädchen lustig? War alles nur Show?

Das schlimmste jedoch ist, dass ich Chloe geliebt habe. Dass ich sie immer noch wie verrückt liebe.

Und, dass sie es weiß. Wird sie es allen erzählen? Wird sich dann jeder über mich lustig machen, weil ich ihr jedes Wort abgenommen habe?

Niemand weiß, dass ich lesbisch bin.
Niemand wusste es bis jetzt.
Was, wenn Chloe es überall herumerzählt? Ich will glauben, dass ich mir nur zu viele Gedanken mache.

Aber warum hat sie dann James geküsst? Warum hat sie mich einfach fallen gelassen? Sie kommt am nächsten Morgen in unsere Zimmer, um ihre Tasche zu holen und ich tue so, als würde ich schlafen.

„Stella?", flüstert sie vorsichtig, doch ich antworte nicht und bleibe auf der Seite liegen. Ich höre den Reißverschluss ihrer Reisetasche.

„Ich weiß, dass du mich hörst.
Du musst auch nichts sagen. Ich weiß, du wirst mir nicht glauben.
Aber es tut mir leid. Es tut mir so leid."

Dann höre ich, wie sie die Türe schließt und bleibe einfach liegen.
Minutenlang, eine gefühlte Ewigkeit.

Irgendwann, die Sonne scheint in mein Fenster auf die weiße Bettdecke, kommen die Tränen.

Sie fühlen sich an wie der Sommerregen, als Chloe und ich noch eins waren. Tröstend und fast schon beruhigend. Als wäre nichts gewesen, als wäre alles noch im Lot, alles noch richtig. Als würde alles stimmen.

Es dauert eine Ewigkeit, bis ich mein Gesicht wasche, mich zum ersten Mal in diesem Leben schminke, damit man nicht sieht, dass ich geweint habe, mir eine grüne Cargojeans und ein weißes T-Shirt anziehe.

Der Frühstückssaal ist noch voll, als ich dort ankomme. Niemand beachtet mich, jeder tuschelt nur über alles mögliche. Klar, Chloe und James sitzen an einem Tisch. Wie früher, wie seit Ewigkeiten.

So, wie es für jeden hier normal ist.
Das schönste und reichste Mädchen aus Le Havre und der coolste Junge in Le Havre. Somit das typische Paar.

Niemand scheint auch nur über das Graffiti nachzudenken, weil alles ist wie immer.

Ich will mich gerade von Chloe abwenden, als ihr Blick auf mich fällt.
Sie schaut mir direkt in die Augen und ich sehe die stumme Entschuldigung in ihrem Blick.

Sie hofft auf Verständnis. Darauf, dass ich ihr blindlings verzeihe, dass sie wieder zu James zurück gegangen ist.

Das kann sie vergessen.

Ich sehe einfach weg, reiße mich aus ihrem magnetischen Feld, schwimme aus ihrer Strömung, werde aus ihrer Umlaufbahn gerissen.

Mein Herz klopft, als ich mir Croissants, Kaffee und Baguette hole, zu Frédérics Tisch gehe und mich setze, ohne mich zu Chloe umzudrehen.

„Hey", sage ich. „Es tut mir leid, dass ich gestern wieder gegangen bin.
Sorry, dass ich nicht mit dir getanzt habe."

Ich meine es auch so. Nur eben freundschaftlich. Aber sollte man nicht etwas ausprobieren, bevor man bereut, dass man es nicht getan hat?

Frédéric zwinkert mir zu.

„Schon vergessen. Cool, dass du dich entschuldigst. Und schön, dass du in Chloe eine Freundin gefunden hast."

Er ist so lieb, so nett. Viel zu lieb dafür, dass ich zu feige bin, ihn zu sagen, dass ich auf Mädchen stehe.

Ich lüge ihn an und er ist der beste Freund, den ich haben kann.

„Naja, wir haben gestern gestritten... Wegen... Mädchenkram. War vielleicht doch keine tolle Freundschaft", sage ich ausweichend.

Frédéric nickt mir aufmunternd zu.

„Das wird schon."

Ich höre Chloe glasklares Lachen, gemischt mit dem von James.
Ein Stich durchfährt mich.

Dann bin ich das erste Mal in meinem Leben wirklich mutig.

„Steht das Date noch?", frage ich, ohne nachzudenken.

Den Anderen am Tisch fallen die Augen aus dem Kopf. Frédéric jedoch grinst bis über beide Ohren.

„Klar. Wo? Wann?"

„Heute? Wir können ein Picknick am Strand machen, bevor es bald nach Hause geht."

Es ist Zeit, Chloe loszulassen.

Man sollte nichts festhalten, was längst davon geflogen ist.

Chloe und mich gibt es nicht mehr.

Ich muss sie loslassen, denn zurück kommt sie nicht mehr...







Kissing you feels like summer rain (Bd.1)✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt