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Nach dem Flug, den meine gesamte Familie - einschließlich mir - schlafend verbracht hat, stehen wir am Zoll. Der etwas ältere Beamte drückt jedem von uns einen Stempel in den Pass, sieht uns währenddessen nicht einmal an und winkt uns dann durch.
„Ich habe schon gedacht, die lassen uns gar nicht einreisen", sagt meine Mutter, etwas lauter als beabsichtigt. Ich nicke. Ich dachte auch, dass wir uns einem Fragenhagel stellen müssen, denn auch auf den mexikanischen Polizeilisten wird Kade stehen. Aber entweder ist das nicht der Fall oder Kade hat auch hier seine Finger im Spiel.
Nachdem wir unser Gepäck geholt haben und Dad von dem Gepäckband weggezerrt haben, das er so interessant fand, stehen wir schließlich draußen. Es ist angenehm warm, die Sonne geht schon langsam unter.
„Wo ist den der Taxistand?", fragt meine Mum und läuft ein bisschen hin und her. Dad steht da, schaut verträumt auf den Busstand vor uns an und lächelt. Immerhin geht es ihm gut.
Mir ist mittlerweile ziemlich flau im Magen. Ich bin wirklich in Mexiko. Ich bin an diesem Ort, an dem ich niemals sein sollte. Weil es hier einfach zu gefährlich für mich ist. Für jeden. Ich weiß nicht genau, was hier alles von den Kartellen kontrolliert wird, aber bestimmt sind einige Hotels auch auf der Liste. Ich werde mich also automatisch in die Hände dieser Leute begeben.
Ich höre meine Mutter rufen, sie hat die Taxis anscheinend gefunden. Ich ziehe leicht an meinem Dad, der nickt und mir folgt. Meine Mutter hat dem Taxifahrer anscheinend schon alles erklärt, denn er hievt wortlos unser Gepäck in den Kofferraum und öffnet uns die Türen. Meine Mum setzt sich vorne rein, mein Dad und ich nehmen mit der Rückbank Vorliebe.
Gleich darauf sind wir auf einer breiten Landstraße und steuern die Stadt an. Sie ist kleiner als LA, gilt jedoch immer noch als Großstadt. Der Verkehr nimmt zu und bald darauf können wir nur noch langsam fahren. Ich sehe aus dem Fenster.
Wie in LA hat es schöne und weniger schöne Ecken. Je weiter wir vorankommen, desto schöner wird es. Am Rand der Straße stehen Bäume und in den Vorgärten sind viele bunte Blumen. Langsam nähern wir uns den Hotels, die ganz vorne am Meer positioniert sind.
Alles sieht sehr nobel aus und ich weiß jetzt schon, dass dieser Urlaub der Letzte für eine längere Zeit sein wird. Dieser Urlaub wird sehr teuer werden. Die Gehsteige füllen sich mit immer mehr Menschen, die meisten von ihnen sind Touristen. Die Meisten sind eindeutig unterwegs zu Parties, aufgebretzelt.
Das Taxi wird langsamer, lässt Menschen die Straße kreuzen und fährt dann eine kleine Auffahrt zu einem Hotel hinauf. Es ist komplett weiß und sieht sehr sauber und wunderschön aus. Auf der großen Blumeninsel, die wir gerade umfahren ist sogar ein Springbrunnen. Dad hat ihn wohl auch entdeckt und lacht leise auf.
Das Taxi hält an und der Kofferraum wird bereits geöffnet. Auch mir wird die Türe geöffnet und ich sehe in das lachende Gesicht eines Portiers. „Herzlich Willkommen", lacht er mir entgegen und sein Lachen steckt mich an. Die Anspannung fällt etwas von mir und ich sehe mich zu meinen Eltern um. Beide sehen äußert zufrieden aus.

Gerade will ich mir einreden, dass das alles gar nicht so schlimm ist und wird, als ich hinter meiner Mutter mehrere tiefschwarze SUVs sehe. Sie wirken überhaupt nicht fehl am Platz, denn es stehen noch viel wertvollere Wagen hier, aber mich beschleicht das Gefühl, dass es etwas mit diesen Wagen auf sich hat.
Der Portier schiebt mich leicht in Richtung Eingang und ich laufe schnell meinen Eltern hinterher. Drinnen sieht es unglaublich aus. In der Mitte ist ein halber Park, in dem sich mehrere Restaurants befinden, umrahmt von einem kleinen Bach, der sich langsam fließend durch den gesamten Eingangssaal zieht.
Ich stelle mich zu meiner Mutter, die sich in der kleinen Schlange zum Einchecken angestellt hat. Sie lacht mich an und zieht mich in ihre Arme. „Ist es nicht wunderschön hier?", flüstert sie mir ins Ohr. „Sowas von", kann ich nur zurückgeben. Es ist wirklich unfassbar.
Als wir vorne stehen werden wir von einer freundlich lächelnden Dame begrüßt, die auch sofort unseren Namen sucht und uns die Schlüssel für unsere Zimmer aushändigt. „Sie wurden übrigens kostenlos upgegraded. Das bedeutet, sie dürfen in unseren berühmten Suiten übernachten." Mum und ich sehen uns an. Es wird wirklich immer besser. „Hier sind Ihre Schlüssel", sagt die Dame und legt uns die Plastikkarten auf den Tresen, „Und einen unvergesslichen Aufenthalt." Wir nicken dankend und drehen uns um. Das Abenteuer kann beginnen.

Dad holen wir an dem kleinen Bach ab, in dem sogar kleine bunte Fische schwimmen. „Seht mal", sagt er und lacht herzlich, „Da schwimmen sogar kleine Fische."
„Ich seh es Dad. Komm, wir sehen uns die Zimmer an."
Er nickt und zusammen folgen wir den Zeichen zu den Aufzügen. Bevor wir aber überhaupt in deren Nähe kommen können, treten aus dem Schatten hinter uns zwei große Personen. Ich nehme sie nur aus dem Augenwinkel wahr, drehe mich aber sofort zu ihnen um. Sie sind eindeutig nicht im Hotel angestellt. Außer vielleicht als Wachpersonal. Sie tragen dunkle Anzüge und sehen uns grimmig an, bleiben aber stehen und verschränken die Hände vor der Brust.
Mit einem Mal fällt mir mein Herz wieder in die Hose. Wer sind die beiden Männer und warum sehen sie mich an, als wollten sie mich abschlachten. Mum und Dad scheint nichts aufgefallen sein, sie kommen aber nur zwei Schritte weiter. Dann treten auch vor uns mehrere Personen aus dem Seitengang. Die drei Männer sehen nicht annähernd weniger gefährlicher aus, als die beiden Riesen hinter uns.
Es ist absolut still, als hinter den Männern zwei weitere hervorkommen. Sie steuern uns an, treten elegant an den Wächtern vorbei und kommen langsam auf uns zu. Ich traue mich gar nicht, in ihr Gesicht zu sehen, obwohl ich schon eine Ahnung habe, wer das ist. Mit einem Blick weiter nach oben bestätigt sich mein Verdacht.
Kade. Und Ronan.

Mein Bruder sieht völlig anders aus als ich ihn Erinnerung habe. Er wirkt viel größer und massiger, der Anzug spannt über seinem muskulösen Körper. Seine Haare sind raspelkurz und eine Narbe zieht sich über seinen Kopf.
Mein Blick gleitet zu Ronan. Ich bin sprachlos. Er ist ein Riese. Ein muskulöser, grimmiger Riese. Mit einer dicken Narbe quer über der Wange. Seine Haare sind fast blond, seitlich kürzer als in der Mitte. Dort liegen sie nach hinten gegelt.

Das ist es also. Das große Wiedersehen.

Mein Mund muss komplett offen stehen, mit einem Seitenblick auf meine Eltern muss ich aber feststellen, dass sie ebenfalls ziemlich geschockt aussehen. Kade bleibt in angemessenem Abstand stehen, Ronan etwas hinter ihm. Es ist offensichtlich, wer das Sagen hat.
Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert. Vor allem weil auch Kade keine Anstalten macht, irgendwas zu sagen.
Dafür überrascht mich mein Vater. Er tritt langsam auf seinen Stiefsohn zu, der ihm neutral entgegensieht, aber jeder seiner Bewegungen folgt.
Und bevor irgendjemand reagieren könnte, schlägt mein Vater Kade einmal quer über das Gesicht. Meine Mutter und ich keuchen zeitgleich auf, Kade dreht völlig ruhig seinen Kopf wieder in Richtung Dad. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er Dad nie etwas antun würde, mache ich mir Sorgen. Gegen Kade hätte keiner von uns eine Chance.
Auch die nächsten Worte von meinem Vater lassen mich geschockt zurück.
„Du bist ein grauenvoller Sohn." Er spuckt ihm diese Worte praktisch entgegen, dreht sich auf dem Absatz um, sieht kurz zu meiner Mutter und mir und geht dann an uns und den Männern hinter uns vorbei. Mum und ich sehen ihm hinterher und ich höre meine Mutter leise schniefen.
Ein Blick zu ihr und ich weiß sofort, dass es eine dumme Idee war, herzukommen.

„Das ist auch einmal eine nette Begrüßung." Die Stimme meines Bruders dringt zu mir vor und alleine diese Arroganz in seinen Worten macht mich auch wütend.
Nicht nur ich und Kade sind damals im Streit auseinandergegangen, sondern auch mein Vater und Kade. Theoretisch müsste ich ihm jetzt auch eine scheuern, die ganze aufgestaute Wut auf ihn, einmal rauslassen. Aber so wie ich es einschätze, würde mir am Ende die Hand nur mehr wehtun als seine Wange.
Ich drehe mich wieder zu meinem Bruder und bemerke sehr wohl, dass sowohl er, als auch Ronan mich ansehen. Das heißt wohl, ich muss die nächste Reaktion von mir geben.
Ich schwanke zwischen lachen und ihn umarmen und einfach wegzugehen. Meinem Vater hinterher beispielsweise. Kade hat eine Umarmung von mir nicht verdient und eigentlich war ich auch nicht diejenige, die ihn unbedingt sehen wollte.
Die einzige Reaktion die mir einfällt, ist ein Schnauben. Sofort schellen die Augenbrauen der beiden Männer nach oben und bevor sie oder Mum noch etwas sagen können, gehe ich meinem Vater hinterher.

Und ganz schnell weg von den beiden Männern, die ich einmal so sehr geliebt habe.

•••
Hallo, und schon wieder eine neues Kapitel.
Wie gefällt es dir?
Schon gespannt, wie es weitergeht?

The Moonlight and YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt