Prolog

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Ich könnte stundenlang mich Nachts in den gestirnten Himmel vertiefen, weil mir diese Unendlichkeit ferner flammender Welten wie ein Band zwischen diesem und dem künftigen Dasein erscheint.

- Wilhelm von Humboldt


Ein kühler Wind fegte an diesem Samstag Abend durch die Straßen der Stadt. Alexandra zog ihren Mantel noch etwas enger. Eine Böe spielte mit ihren Kleidersaum, während sie auf den teuren Marmortreppen des Hotels stand, und hinunter zur Straße blickte. Die Sonne war längst unter gegangen, doch in dieser Stadt wurde es nie wirklich dunkel. Tausende Straßenlaternen machten die Nacht zum Tag und wenn sie hinauf sah, sah sie keine Sterne, sondern ihre Augen glitten an den gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer hinauf, bis sich alles in einem einheitlichen Blau-Schwarz verlor. In Nächten wie dieser spürte sie eine so große Sehnsucht nach den sternenklaren Nächten ihrer Kindheit, dass ihre Fingerspitzen kribbelten und ihre Herz sich schmerzhaft zusammen zog. In Nächten wie dieser würde sie alles dafür geben, auf den weiten Wiesen ihrer Heimat zu liegen und mit dem Geruch von frischen Heu in der Nase in die Unendlichkeit hinauf zu starren und zu wissen, dass alles möglich ist und es keine Grenzen gibt.

Sie hatte schon viele Jahre nicht mehr auf solch einer Wiese gelegen und das Leben hatte ihr ohne Scharm gezeigt, dass die Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit schon immer nur eine Fassade war, hinter der ein Abgrund lauert, in den man früher oder später unaufhaltsam fiel.

Ihr Blick wanderte zu Jack, der einige Meter entfernt unten am Bordstein stand und mit jemanden redete, den sie nicht kannte. Der Fremde zog an seiner Zigarette und blies den weißen Rauch genüsslich in die graue Nacht. Jack stand mit dem Rücken zu ihr und schien sie völlig vergessen zu haben. Sie nahm es ihm nicht übel. Sie nahm ihm schon vieles nicht mehr übel.

Manchmal stellte sie sich vor, mit ihm diesen unendlichen Sternhimmel ihrer Kindheit zu sehen. Vielleicht könnte es sie beide heilen, wieder zu einem Ganzen werden lassen. Jetzt glichen sie eher zwei alten Puzzleteilen, deren Ränder die Zeit bereits so ausgefranst hatte, dass sie nicht mehr lange zusammen halten würden.

Alexandra musterte ihn, wie er da so stand, nur wenige Meter von ihr entfernt und doch unerreichbar. Sie hatte einmal gelesen, dass man jemanden, den man kennenlernt, nur die ersten Minuten objektiv wahrnimmt. Danach verschwimmt das Bild je nachdem, wie man der Person zugetan ist. Sie wünschte sich, ihn noch einmal kennenlernen zu dürfen. Sie wünschte sich, noch einmal Fremde zu sein.

Würde ihr zu erst seine gerade Haltung auffallen und der Stoff seines schwarzen Anzugs, der sich über seinen breiten Schultern spannte oder vielleicht die feinen Linien seines Tattoos, die leicht an seinem Nacken hervor schauten oder sein kurzes rabenschwarzes Haar darüber, auf das das gelbliche Licht der Straßenlaternen schien?

Der Fremde neben Jack schnippte den Stummel seiner Zigarette auf die Straße, wo er noch einen Moment glühte und dann für immer erlosch, und ging wieder hinein. Sein Blick streifte sie nur flüchtig.

Nun kam Jack wieder zu ihr, überwand die wenigen Stufen leichtfüßig, die sie trennten.

Wäre es doch nur das, dachte sie.

Er hob seine Hand, doch sie entzog sich seiner Berührung. Sie waren leider keine Fremden, sondern seit acht Jahren verheiratet.

„Ist alles okay?", fragte er. Sie nickte nur. Nichts war okay. Schon lange nicht mehr.

Er schwieg und starrte ihr nur in die Augen, als könnte er hier die Antworten auf seine Fragen finden. Die Tür hinter ihnen schwang auf und Musik und Gelächter schwappte auf die Straße, wie eine Welle an den durstigen Strand. Die Tür fiel wieder zu, die Stille kehrte zurück.

Deadly BonesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt