Kapitel 1

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Gegenwart

Markant hoben sich die sanften Rundungen der Dünen vom dahinter liegenden Wasser ab, in das die Sonne gemächlich hinab sank. Das Ende eines warmen Sommertages nahte und der sonst glühende Zuckersand des Weststrandes verlor allmählich an Temperatur. Die sich leicht im stetigen Wind wiegenden, knorrig aussehenden Kiefern fügten sich stimmig in das Gesamtbild des Abends und warfen bizarre Schatten in die begrünten Hügel, die den angrenzenden Wald vom Sandstrand trennten.

Die vom Haupttourismus abgeschirmte Ecke der Ostseeinsel war fast menschenleer, nur ab und zu passierten ein paar letzte Spaziergänger die zwei Frauen, die sich unweit des Aufgangs auf eine erhöhte Sandbank an der Wasserkante gesetzt hatten, um die Füße ein letztes Mal für den Tag ins kühle Nass zu halten.

Seufzend ließ sie den Sand durch die Zwischenräume ihrer Finger rieseln, die Augen fixiert auf den kleinen Haufen, der sich darunter bildete. Es war unglaublich, wie die Zeit vergangen war. Schmunzelnd löste sie ihren Blick und ließ ihn zu ihrer Freundin wandern, die Gedankenverloren auf den Horizont starrte.

„Woran denkst du?", fragte sie mit belegter Stimme, denn auch ein Räuspern ließ die klebrig süßen Gefühle nicht von ihrer Stimme verschwinden.

„Es ist jetzt fast 4 Jahre her. Ist das nicht krass?" Das Schmunzeln auf ihrem Gesicht vertiefte sich zunehmend.

„Ja, daran hab ich auch schon gedacht." Eileen wandte ihr den Kopf zu und erwiderte strahlend ihr Lächeln mit einem breiten Grinsen.

„Der Urlaub tut uns nicht gut, Schatz", ahmte sie nasal die Stimme ihrer Mutter nach, wenn sie wieder predigte, wie wichtig genügend Abstand in einer Beziehung war. „Du liest meine Gedanken. Das ist nun wirklich zu viel!" Ein schallendes Lachen entkam ihrem zierlichen Körper und Emma kam nicht umhin belustigt den Kopf zu schütteln.

Vor 4 Jahren

Verträumt zupfte Catherine zum tausendsten Mal am Kleid herum, sodass sich jeder noch so kleine Zentimeter perfekt an die Figur ihrer Tochter fügte.

„Du bist einfach wunderschön", gurrte sie entzückt und strahlte sie glücklich an.

„Ich weiß, Mama. Du hast es oft genug erwähnt in den letzten 10 Minuten." Unwohl wand sich die junge Frau aus den Händen der Mutter und stakste ungelenkt zum bodenlangen Spiegel, den eine ihrer Freundinnen extra für den Anlass mitgebracht hatte. So fehlplatziert hatte sie noch nie ein anderes Ding in einer Kirche gesehen. Die befestigte Blumen-LED-Lichterkette leuchtete nur wenig heller als das Weiß der Wand, an der der Spiegel lehnte.

„Eine viertel Stunde noch, dann steht mein Baby vor dem Altar", nahm ihre Mutter das schwärmerische Gespräch wieder auf. Währenddessen purzelte in Eileens Bauch das letzte Essen nur so hin und her und ihr war, als hätte ihre Übelkeit nun endgültig ihren Höhepunkt erreicht. Blass sah sie sich selbst im Spiegel an und fragte sich einmal mehr, welche Frau dort ihren Platz in der Welt eingenommen hatte.

„So eine verdammte Scheiße", knurrte Emma frustriert, als sich der Fahrstuhl einmal mehr entschied, auf dem Weg nach unten an einer leeren Etage anzuhalten. „Nicht einmal das bekommt diese Firma hin. Aber wahrscheinlich ist das auch meine Schuld!" Die verspiegelten Wände des Aufzuges zeigten durch die Streifen hindurch eine zutiefst genervte Frau Mitte zwanzig, die bereit war, jeden Moment einer unschuldigen Person den Kopf abzureißen, würde diese es wagen, ihrer geballten Wut in den Weg zu kommen.

„Du hast die Blumen nicht gegossen, Emma. Du bist zu ungenau gewesen, Emma", ahmte sie in zynischem Tonfall ihre Kollegen nach. „Das sind deine verkackten Blumen. Inwiefern ist das bitte meine Schuld, wenn du zu dumm zum Bedienen einer Gießkanne bist? Und der Entwurf stammt überhaupt gar nicht von mir, zum Teufel nochmal!"

Die Türen glitten ächzend auseinander und Emma verließ scharfen Schrittes den Metallkäfig. Mit knallenden Autotüren und ruckartigen Bewegungen verließ der dunkelgrüne Wagen das kleine Parkhaus.

Nervös krallte sie die Hände in den ausladenden Stoff des weißen Kleides, um das verräterische Zittern zu vertuschen. Flach und abgehakt holte sie immer wieder zittrig Luft, doch alle Konzentration dieser Welt ließ sie nicht vergessen, wie übel ihr war und wie sehr sie sich wünschte, jetzt sofort kehrt machen zu dürfen und aus der Verantwortung zu fliehen.

„Schätzchen, es wird doch alles Gut", versuchte ihre Mutter sie erneut zu beruhigen, vergebens. Den zunehmend zweifelnden Blicken ausweichend legte sie einmal mehr den Kopf in den Nacken, soweit es die kunstvolle Flechtfrisur eben zuließ.

Du schaffst das schon, flüsterte eine hartnäckige kleine Stimme immer wieder in Eileens Kopf. Doch je weniger Sekunden noch bis zum Öffnen der Flügeltüren blieben, desto weniger glaubte sie an die Wahrheit dieser Worte.

Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht, schrie ein viel zu übermächtiger Teil ihrer Seele und stimmte so in das Intermezzo ihrer Übelkeit ein.

Als die ersten Töne erklangen und ein naher Verwandter der Familie Anstalten machte, die Türen aufzuziehen, entfloh ihr ein panisches 'Ich kann das nicht' und sie floh leichenblass aus der Kirche.

Stolpernd rannte sie die Treppen hinunter, verlor dabei auf halber Strecke die flachen und wohl bemerkt unglaublich teuren Pumps und kam unverhofft auf der wenig befahrenen Straße zum stehen, das Herz noch hektisch am Klopfen, der Atem keuchend und geräuschvoll.

Ein lautes Hupen riss sie aus ihrer kurzen Trance und verschreckt drehte sie den Kopf zu jenem Wagen, der geradeso mit Ach und Krach rechtzeitig vor der Frau zum Stehen gekommen war.

Siedend heiß durchfuhr Emma der Schock, als keine zwanzig Meter vor ihr eine Frau auf die Straße taumelte. Erschrocken drückte sie das Bremspedal bis zum Anschlag runter. Der Wagen beschwerte sich nicht, rutschte nur einige Meter und kam Sekunden später zum Stehen, gerade richtig, um der Braut nicht auf den Saum zu fahren.

Der Schock hatte sich noch nicht ganz den Weg in ihre Blutbahnen erkämpft, da setzte sich die Frau in weiß schon in Bewegung, riss die Fahrertür auf und wuchtete sich samt Kleid auf den Beifahrersitz des Kleinwagens.

„Fahr!", ertönte es wenig später panisch von eben jener nun Beifahrerin. „Bitte, bitte, schrei mich an, sei fuchsteufelswild, aber fahr um Gottes Willen!"

Überrumpelt kamen Emmas Reflexe der Bitte nach, während sie sich noch gar nicht ganz der neuen Situation bewusst war.

Die ersten Leute strömten schon aus der Kirche hervor, da ließ Emma schließlich die Kupplung kommen und verließ immer schneller werdend den Schauplatz dieses nervenaufreibenden Ereignisses.

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