Kapitel 2

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Nach einer ganzen Ewigkeit, oder so erschien es mir, wandte er den Blick ab.

Plötzlich fühlte ich mich nackt, als würde etwas wichtiges fehlen. Einen kurzen Moment lang war ich ganz verloren, doch dann merkte ich wie Nate sich vorbeugte, und als er die Gestalt in der Zeichnung wahrnahm, versteifte sich sein ganzer Körper.

Kurz weiteten sich seine Augen, er hatte sich aber so schnell wieder im Griff, dass ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Schnell setzte er sich aufrecht auf und starrte geradeaus nach vorne.

»Hübsch.« Seine Stimme klang wie aus der Ferne, als wäre er gar nicht hier anwesend.

Sofort riss ich den Zettel aus dem Block und steckte ihn in die Tasche meines Kapuzenpullis.

Den Rest der Stunde über ignorierten wir uns gegenseitig. Ich hätte froh oder mindestens erleichtert sein sollen, es war aber genau das Gegenteil.

Irgendetwas in mir sehnte sich nach seiner Stimme. Ich wollte mich entschuldigen, aber das hätte nicht wirklich Sinn ergeben. Wie hätte ich den wissen sollen, dass ich dabei gewesen war, meinen Sitznachbarn zu zeichnen?

Der Gong zur Pause erklang und bevor ich mich zusammenreißen konnte, um mit Nate zu reden, war er wieder verschwunden.

***

Ich fühlte mich beklommen und verwirrt, so sehr, dass ich alles andere ausblendete. Wie in Trance verließ ich das Klassenzimmer und bewegte mich automatisch in Richtung Biosaal.

Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Wie zum Teufel war er in meinen Träumen erschienen? Ich war diesem Jungen noch nie in meinem Leben begegnet. Warum hatte ich ihn dann gezeichnet? Nates Gesicht kam mir inzwischen so vertraut vor wie mein eigenes.

»Dorothea!«, eine bekannte Stimme erweckte mich aus meinem Tagtraum. Ich drehte mich nach hinten und funkelte Sam böse an.

»Nenn mich noch ein einziges Mal so in der Öffentlichkeit, und deine Eltern werden um dich trauern müssen.«

Anscheinend fand er das wahnsinnig amüsant, denn er schlang seinen Arm um mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Also darf ich Dorothea zu dir sagen, wenn wir alleine sind?« Sam war mein bester Freund. Wir waren Nachbarn und kannten uns schon ewig.

Als ich seufzte konnte ich erkennen, dass seine Augen leuchteten. Das erste Mal, das ich diesen Blick bei ihm sah, waren wir vierzehn gewesen. Wir machten gerade Hausaufgaben, als er mich plötzlich anstarre. Noch nie hatte mich jemand so angeschaut. Ich fragte ihn, was los war, und er wurde so rot wie unser Mathebuch. »Nichts«, hatte er dann gesagt. »Du hast sehr schöne Augen.«

Seit diesem Tag wusste ich, dass er etwas mehr als Freundschaft für mich empfand. Zum Glück hatte er mir seine unerwiderte Liebe noch nie gestanden. Ich wollte unsere Freundschaft nicht zerstören indem ich ihn ablehnte.

Wahrscheinlich dachte er dasselbe, und hatte es mir deswegen bis jetzt noch nie gesagt. Außerdem hatte er eine Freundin. Mich wunderte das nicht im geringsten. Sam war einer der beliebtesten Schüler der ganzen High School. Er war Kapitän der Football-Mannschaft, gutaussehend und charmant. Die meisten Mädchen würden morden, um ihm so nahe zu sein wie ich es war. Sogar Ann warf mir immer wieder vor, wie dumm ich sei so eine brennende Flamme entgehen zu lassen.

»Ach Thea, du weißt, dass ich dich gerne ärgere«, sagte Sam schmeichelnd und drückte mich ein bisschen fester an sich. Als ich am anderen Ende des Ganges seine Freundin, Jessica, erkannte, zeigte ich mit dem Kinn auf sie.

»Da kommt die Liebe deines Lebens angerannt. Lass lieber die Finger von mir weg, sonst erweckst du noch die Furie in ihr«, scherzte ich.

Sam verdrehte die Augen, drückte sich aber von mir weg. Ich machte mich gerne über Jessica lustig. Nicht, dass sie nicht zusammenpassen würden. Jessica war eine Chearliderin mit meterlangen Beinen und perfekt gestylten blonden Haaren. Aber ich fand das High School Klischee einfach zu lächerlich um nicht darüber zu scherzen.

Jessica näherte sich immer mehr. Heute trug sie einen kurzen Jeansrock und eine weiße Bluse. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf hochgesteckt, sie wehten ihr seidig hinterher. Wie üblich wandten sich beim Vorbeigehen alle Blicke zu ihr.

»Schatz!«, piepste sie und warf sich um Sams Hals.
Mich ignorierte sie.
»Hast du meine WhatApp Nachricht gar nicht bekommen? Ich habe dir gesagt, du solltest vor der Schule auf mich warten.«

Sam zuckte gelangweilt mit der Schulter. »Hab's vergessen. Sorry, Babe.«

Jessica löste sich von ihm, verschränkte die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund.

»Guten Morgen, Jessica«, ich sprach die Worte ganz langsam aus, als würde ich mit einem Kind reden. Sie warf mir einen hasserfüllten Blick zu. Das einzige Gefühl, das sie in meiner Gegenwart empfand, war Hass.

Sam trat mich leicht mit einem Fuß, ich hörte sein typisches Sei-Nett-Zu-Ihr im Kopf und unterdrückte ein Lachen.

»Na gut«, Jessica hakte sich bei Sam ein. »Gehen wir lieber zum Unterricht. Wir wollen ja nicht zu spät kommen.« Sie funkelte mich noch einmal böse an und zog Sam hinter sich her, der mir einen entschuldigenden Blick zuwarf.

Seitdem sie zusammen waren, verbrachten sie die Zeit in der Schule immer gemeinsam. Es machte mich traurig und erleichterte mich zugleich. Er war in mich verliebt, ja, aber er war noch immer mein bester Freund.

Es läutete.

Schnell rannte ich den Flur entlang indem ich anderen Schülern auswich und betrat das Klassenzimmer gerade noch rechtzeitig. Mrs. Frietz hatte gerade angefangen, etwas auf die Tafel zu schreiben. Ich setzte mich auf  meinem Platz und holte meinen nicht Block heraus. Diesmal würde ich nicht den selben Fehler begehen, Nate in Engelsgestalt zu zeichnen.

Sam, der in der ersten Reihe neben Jessica saß, und bemerkt hatte, dass Mary noch nicht hier war, drehte sich zu mir und deutete auf sich und dann auf den freien Platz neben mir.

Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht taucht Nate noch auf, dann kann er sich neben mich setzen und wir können wieder ein peinliches Schweigen miteinander teilen, dachte ich sarkastisch.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, ging die Tür auf und Nate kam ins Klassenzimmer hineingeschlendert. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Erneut änderte sich die Atmosphäre der Klasse ruckartig. Neugierde, Faszination, Eifersucht.

Mrs. Frietz bemerkte ihn und wies ihn zum einzig freien Platz. Natürlich musste er neben mir sitzen. Sofort bereute ich, Nein zu Sam gesagt zu haben. Toll gemacht, Thea.

Nate erkannte, dass er sich unvermeidlicherweise zu mir gesellen musste und zuckte kaum merklich zusammen. Daraufhin flüsterte er Mrs. Frietz etwas zu.

»Natürlich. Du bist entschuldigt«, antwortete sie laut.

Nate warf mir einen letzten Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Dann ging er hinaus.

Mich wunderte es nicht. Für ihn musste ich ein totaler Freak sein. Kein Wunder, dass er lieber den Unterricht schwänzte, als eine Stunde in meiner Anwesenheit zu verbringen.

Trotzdem wurde ich sauer. Sauer auf mich, auf meinen blöden Traum und auf die blöde Zeichnung.

Genug, dachte ich mir, ich werde nicht mehr über Nate Cafflin nachdenken.

Im Abbild deines BlickesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt