Kapitel 1

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Von der Ferne erkannte ich sie schon. Nach ihrem Gesicht zu urteilen befand sie sich in äußerst guter Stimmung, was ich seltsam, Angesicht der Tatsache, dass ich zu spät war, empfand.

Ich ging näher, und als sie mich endlich bemerkte, erhellte sich ihre Miene.
Sie bewegte ihre Arme hektisch über ihren Kopf, vermutlich als Zeichen, dass ich mich beeilen sollte.

Ann lächelte weit und eine Reihe gerader Zähne kam zum Vorschein. Als sie versuchte, ihre Arme um meinen Hals zu schlingen stolperte sie. In der letzten Sekunde ergriff sie den Ärmel meines Pullovers und wir prallten beide gegen den Betonboden. Mühsam rappelten wir uns auf, wir brachen in schallendes Gelächter aus.

»Zehn Minuten Verspätung!«, tadelte sie mit gespielter Strenge und rieb sich die Ellbogen. 

»Mein demütiges Herz bittet um ihre Vergebung, oh, Sie prächtige Miss Monroe.«

Ann grinste mich an. »Ja, ja, ich verzeihe dir, deinem Herzen und wenn du willst auch deinen restlichen Organen. Aber rate mal welche Neuigkeit ich habe!«, ohne auf meine Antwort zu warten plapperte sie weiter. »Ein neuer Schüler ist eingetroffen. In unserem Jahrgang. Und er ist, wie soll ich sagen? Heißer als eine brennende Flamme?«

Über diesen Ausdruck krümmte ich mich vor Lachen. »Eine brennende Flamme? Dein Ernst?«

Sie fuhr ohne auf meine Neckerei einzugehen unbeirrt fort. »Um genauer zu sein sind es insgesamt zwei neue Schüler. Irgendwie miteinander Verwandt und natürlich sollen beide umwerfend ausschauen. Ich habe nur Jasper zu Gesicht bekommen. Genau am Tag an dem ich wie der letze Penner aussehe.«

Ann übertrieb wiedermal, was ganz gewöhnlich war.  Sie schwang fieberhaft die Hände und deutete damit auf ihr Outfit. Der bemerkbar teure Stoff ihres cremefarbenes Kleides ließ ihre gebräunte Haut deutlicher ausstechen.
Ihre runden, nussbraunen Augen waren mit Eyeliner überzogen, was sie etwas größer erschienen ließ und ihre Lippen hatten einen leichten hauchrosa-Ton.

Ich würde sie nicht als schlechtaussehend bezeichnen - ganz im Gegenteil.

»Ich hoffe ich habe ein paar Kurse mit ihm!«, prahlte sie weiter.

Um ehrlich zu sein interessierte mich das nicht wirklich. Fast monatlich schwärmte Ann über einen anderen Jungen und wenn es ihr zu langweilig wurde, vergaß sie ihn magischerweise von einen Tag auf den anderen. Nicht, dass dies mich stören würde, aber ich war daran gewöhnt, dass sie sich von Jungen leicht begeistern ließ. Aber eben nur für eine kurze Zeit.

»Thea!«, riss mich Ann aus meinen Gedanken.

»Hmm?«

Verärgert blieb sie stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hasste es, wenn ich ihr nicht zuhörte. »Interessiert dich gar nicht was ich da rede?«

Ich versuchte vom Thema abzulenken »Warte, hast du den Aufsatz für Englisch, den wir über die Sommerferien bekommen haben, schon geschrieben?«

Ann verdrehte die Augen. Ich spürte ihre Enttäuschung. »Ist schon gut. Aber komm bloß nicht angerannt, wenn du über einen Jungen mit mir sprechen willst!«

Mit diesen Worten machte sie auf den Absatz kehr und tritt in das Schulgebäude ein. Kein Problem, dachte ich mir, Thea Goodwine hat keine Zeit für die Liebe.

***

Ich betrat den Raum, in dem ich Geschichte hatte. Einen Kurs, den ich ohne Ann ertragen musste. Schnell setzte ich mich auf meinem Platz ganz hinten neben dem Fenster, stecke  mir die Kopfhörer in die Ohren und begann eine Skizze in meinem Block zu zeichnen.

Seit Tagen tauchte ein Gesicht vor meinen Augen auf und ich konnte nicht aufhören es aus allen möglichen Blickwinkeln wiederzugeben. Es erschien immer wieder ein Junge mit einer engelsgleichen Gestalt. Ich träumte davon, wie ich zu ihm gelangen wollte, doch es war als würde mich eine unsichtbare Wand aufhalten. Das Gesicht lächelte, aber die Augen waren traurig. Der Blick war schmerzerfüllt, als würde die wahre Person darin eingesperrt sein. Wie konnte man so viel Düsterkeit widerspiegeln und gleichzeitig so wunderschön sein?

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Mr. Banner kam dicht gefolgt von einem Jungen hinein.

Die Atmosphäre in der Klasse änderte sich schlagartig von Unruhe zu höchster Konzentration, Faszination und sogar Eifersucht. Ich spürte es fast so als wären es meine eigenen Gefühle und war kurz angelockt aufzuschauen. Doch ich wusste, dass es einer der Neuen war, und er interessierte mich nicht im geringsten.

»So.« Mr Banners raue Stimme erschallte durch den Raum. »Das ist Nate Cafflin. Wie ihr vielleicht wisst, ist er mit den Rest seiner Familie nach Port Orford gezogen und kennt sich hier nicht aus, also erhoffe ich etwas Freundlichkeit von euch.«       

Dann wandte sich Mr. Banner direkt an den Jungen »Bitte, gesell dich nach hinten zu Thea.«

Verdammt. Konnte ich denn nicht meine Ruhe haben?

Nate kam immer näher. Er ließ sich auf den Sitz nieder und ich fühlte förmlich wie sein Blick mich durchbohrte. Mr. Banner hatte inzwischen damit angefangen uns über den Unabhängigkeitskrieg zu berichten.

»Ist es nicht unhöflich Musik während der Stunde zu hören?«, seine Stimme war nur ein Flüstern, trotzdem ließ dieser Klang mir die Haare am Nacken zu Berge gehen.

Ohne ihm zu erklären, dass ich nur so tat als würde ich tatsächlich Musik hören, riss ich die Kopfhörer aus meinen Ohren und steckte das Handy in die Tasche. Unbeirrt fuhr ich mit meiner Zeichnung fort.

Der Bleistift bewegte sich als wäre er ein weiteres Glied meines Körpers, brachte eine schwarze, zerzauste Mähne ins Papier zum Vorschein, vom Rücken ragten prächtige Flügel aus samtweichen Federn.

»Also ich finde es noch unhöflicher, andere Menschen bei ihren Zeitvertreiben zu stören.« Angriff war schon immer die beste Verteidigung.

Neben mir bebte sein Körper leicht, als er ein Lachen unterdrückte. »Tut mir Leid, ich wäre dankbar für die Warnung gewesen. Schließlich könnte dich der Lehrer erwischen.«

Nein, wollte ich erwidern, denn er ist zu sehr mit dem Rest der Klasse beschäftigt.

Stattdessen ignorierte ich ihn. Mein Werk war fast vollkommen. Ich überlegte was noch fehlte, und plötzlich tauchte es vor meinem inneren Auge auf.

Auf dem nackten Oberkörper waren zwei Narben zu sehen, eine dicker als die andere. Sie zogen sich vom linken Schulterblatt bis zu den Rippen hinunter.

»Obwohl, er scheint ziemlich lässig. Wahrscheinlich würde er nichts großes dagegen unternehmen.« Dieser Typ gab nicht nach. »Darf ich mal sehen was du da zeichnest?«

»Hör zu, nur weil du neu bist heißt es nicht, dass . . . « Als ich ihn endlich ansah, brachte ich kein einziges Wort mehr heraus.

Es waren nicht seine dunklen Haare, die ihm  seidig auf die Stirn fielen und sich leicht kräuselten. Nicht der wunderschön gewölbte Mund. Auch nicht die engelhaften Züge, diese meeresblauen Augen die mich belustigt musterten, in denen ich mich verirren könnte, oder die bloße Schönheit seines Anblicks was mich bannte.

Es war die Tatsache, dass er der namenlose Engel meiner Zeichnung war.

Im Abbild deines BlickesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt