Nach dem Vorfall in der Mädchentoilette ließ ich mich entschuldigen und fuhr nach Hause.
Es war genau 12:32 als ich durch die Eingangstür ging und einen verzweifelten Schrei hörte.
Panisch hastete ich ins Wohnzimmer und fand meinen kleinen Bruder Miloh vor. Er hockte auf dem Teppich vor dem Fernseher und hielt zwei Legosteine in der Hand. Vor ihm ragte ein Star Wars Raumschiff auf, auf dem ein kleiner, kopfloser Darth Vader thronte.
»Die ganze Galaxie wird dir zu ewigem Dank verpflichtet sein, wenn sie erfahren, dass du Darth Vader geköpft hast«, sagte ich ihm.
Mit gerunzelter Stirn drehte er sich zu mir und warf mir einen missbilligten Blick zu. »Das war nicht absichtlich!«, schrie er dann empört auf. Er wandte sich wieder seinem Raumschiff zu und ließ beide Legosteine fallen. »Keine Sorge, ich werde dich retten.« Miloh war schon immer ein Fan der dunklen Seite gewesen.
Meine Mutter, die gerade ins Wohnzimmer kam, tippte mich an der Schulter. »Was machst du denn so früh zu Hause?«, wollte sie wissen. Ich spürte, wie besorgt sie war. »Ist was passiert?«
»Nein, Mum«, antwortete ich schnell ohne den Blick von Miloh abzuwenden. Ich wollte sie nicht anlügen, aber ich tat es. »Ich habe nur ziemlich starke Regelschmerzen.«
»Was sind Regelschmerzen?«, fragte Miloh. Als neugieriges 10-jähriges Kind konnte er nicht anders.
»Oje. Ich mache dir einen Tee«, sagte meine Mutter fürsorglich und ignorierte Milohs Frage.
»Ist nicht nötig. Ich werde mich nur ein bisschen hinlegen«, ich lächelte sie an. Mum hob eine Augenbraue, doch sie ließ locker. Das gefiel mir an meiner Mutter, sie wusste genau, wann ich etwas Abstand brauchte.
Ich ging die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, warf die Schultasche in eine Ecke und sperrte die Tür hinter mich zu. Dann ließ ich mich auf das Bett fallen. Auf der Decke klebten weiße Leuchtsterne. Die hatte ich vor Jahren zu Weihnachten bekommen, damals hatte ich Angst vor der Dunkelheit gehabt. Mein Vater hatte gemeint, sie würden meine Albträume wegleuchten. Ich wünschte, sie hätten das auch mit Nates Träumen gemacht.
Nate.
Unwillkürlich dachte ich an den Klang seiner Stimme, tief und rau. Würde er jemals wieder mit mir sprechen? Etwas in mir klammerte sich an diese Hoffnung. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, obwohl ich ihn gar nicht kannte.
Du kennst ihn, protestierte eine Stimme in mir.
Aber es war mir nur sein Aussehen vertraut. Diese blauen Augen, die in meinen Träumen nach Hilfe riefen, die mich vor etwas warnen wollten. Wenn ich nicht mal im Traum zu ihm gelangen konnte, wie sollte ich das im echten Leben tun?
Mein Handy vibrierte. Ich holte es aus meiner Tasche, eine Nachricht von Ann.
Wo bist du?
Ich stöhnte auf. Ann würde mich mit Fragen bombardieren.
Zu Hause. Regelschmerzen.
Nach drei Sekunden schrieb sie wieder zurück.
Unsinn. Wir reden morgen!
Ich konnte es kaum erwarten.
***
Als es draußen dunkel wurde, machte ich mich bettfertig. Ich putzte meine Zähne und zog mich um. Auf Abendessen verzichtete ich mit der Ausrede, ich müsste schon am ersten Schultag tonnenweise Hausaufgaben machen.
Als ich mich endlich ins Bett legte, klopfte es an meiner Tür und meine Mutter kam herein. Sie setzte sich auf die Bettkante und streichelte sanft mein Haar. »Draußen ist jemand, der mit dir sprechen möchte.«
Fragend schaute ich sie an, doch sie lächelte geheimnisvoll. »An deiner Stelle würde ich ihn nicht warten lassen, es scheint äußerst wichtig zu sein.«
Mit einem Ruck sprang ich vom Bett auf und stolperte die Treppen hinunter. Könnte das Nate sein? Woher wusste er, wo ich wohnte?
Als ich die Haustür außer Atem aufschlug versuchte ich mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Sam.
Er fuhr sich mit einer Hand durch die schon zerzauste Mähne und biss sich auf die Lippe. »Hi«, brachte er heraus. Seine Nervosität umhüllte ihn wie ein Schleier und drohte damit, mich anzustecken. Sam war nie nervös, er hatte immer alles unter Kontrolle.
»Hi«, gab ich zurück.
»Können wir kurz reden?«, er deutete mit dem Finger auf die Hollywoodschaukel auf der Veranda, ich nickte und machte die Tür hinter mich zu.
Wir setzten uns beide hin und ich trommelte leicht mit den Fingern auf mein Schoß. Sam vermied meinen Blick.
»Also...«, fing ich an. »Worüber willst du mit mir reden?«
»Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Du weißt schon, wegen heute. Ich hätte dir diese Zeichnung nicht einfach ohne Erlaubnis wegnehmen dürfen. Und es tut mir Leid, dass ich dann einfach so abgehaut bin.« Er bereute es wirklich, das spürte ich.
»Kein Problem. Diese Zeichnung bedeutet wirklich gar nichts. Ich wollte nur...«
»Ich habe mit Jessica Schluss gemacht«, unterbrach er mich. Das traf mich völlig unerwartet.
»W-Was?«, stammelte ich ungeschickt heraus.
»Ja. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wieso ich mit ihr zusammen war.« Jetzt schaute er mir direkt in die Augen.
Die Hälfte seines Gesichts lag im Schatten. Im Mondschein wirkte er viel zierlicher als er war. Seine Züge waren weich und sein Blick war zart wie eine Feder. Sam war wirklich schön. Er nahm meine Hand und Panik stieg in mir auf. Was machte er da?
»Thea...«, seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Ja?«, fragte ich unsicher.
Er lächelte klein. »Du hast sehr schöne Augen.«
Ich war wie gelähmt. Was sollte ich jetzt sagen?
Nach einer kurzen Stille sprach er weiter. »Am Freitag ist das Lagerfeuer. Ich möchte mit dir dorthin gehen. Was hälst du davon?« Hoffnung stieg in ihm auf.
Das Lagerfeuer war eine Party, die draußen am Stadtrand jedes Jahr zu Schulbeginn gefeiert wurde. Normalerweise hielt ich mich von großen Veranstaltungen fern, und das wusste Sam. Zum Lagerfeuer hatte mich Ann das letzte Jahr mitgezerrt. Und ich hatte mir geschworen, nie wieder dort aufzutauchen.
»Sam, ich weiß nicht...« Enttäuschung. Er hatte damit gerechnet, dass ich sofort zusagen würde. »Es wird eine Menge los sein, ich hab keine Nerven dafür.«
»Aber...«, erwiderte er. »Es wird bestimmt lustig. Ann wird auch dort sein. Wir werden die ganze Zeit bei dir sein.«
Ich überlegte. Und plötzlich kam mir ein Gedanke. Vielleicht würde Nate dort sein! Das wäre die perfekte Gelegenheit, um mit ihm zu sprechen.
Sofort stiegen Schuldgefühle in mir auf. Sam wollte mit mir zum Lagerfeuer gehen, und ich dachte über Nate nach. Was war mit mir los?
»Okay«, sagte ich schließlich. »Ich werde mitkommen.«
Er lächelte freudestrahlend, drückte kurz meine Hand und sprang auf.
»Perfekt!«, sagte er mehr zu sich selbst. »Wir sehen uns morgen.«
Bevor er ging, beugte er sich zu mir und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, so wie er es immer tat. Doch diesmal zitterte er ein bisschen dabei.
Er drehte sich um und ließ mich wiedermal alleine zurück. Diesmal aber mit meinen Gedanken.
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Im Abbild deines Blickes
Teen Fiction>> »Thea«, er sprach meinen Namen mit einer Vertrautheit und mit einer Zärtlichkeit aus, die mich zum erröten brachte. »Du solltest mich eigentlich hassen«, gedankenverloren spielte er mit meinen Fingern. Ich wusste nicht, wir er so ruhig vor sich...