Kapitel 1

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„Wann kommst du mich wieder besuchen?", flüsterte ich in mein Steinzeit-Telefon hinein. An der anderen Seite der Leitung herrschte stille.
„Henry?", sagte ich nun etwas lauter, aber immer noch leise genug, um Mia, meine kleine Schwester, nicht aufzuwecken.
Wieder keine Antwort...
„Bist du noch da?"
Mein Blick viel auf Mia, die seelenruhig mit geschlossenen Augen da lag und schlief.
„Ja, Livie, ich bin noch dran..."
Henry's Stimme wirkte bedrückt. Ich wollte weiter auf meine Frage eingehen, doch Henry's plötzlicher Stimmungswechsel ließ mich zögern.

„Was ist los, Henry? Das geht schon seit Wochen so. Stimmt irgendwas nicht?"
Henry war seit 7 Monaten in Vancouver, Kanada und machte ein Auslandsjahr und war einer weltklasse Basketballmannschaft beigetreten.

Henry's Augen schimmerten immer voller Leidenschaft, wenn er von Kanada sprach. Er hatte viele neue Freunde und vor allem FreundINNEN gefunden, die mich mehr als ich zugeben wollte, beschäftigten.

Henry räusperte sich und schwieg.
„Jetzt sag schon! Ich werd dir schon nicht dem Kopf abreißen", sagte ich und lachte nervös.

„Ich glaube e-„
Mehr vom Satz konnte ich nicht mehr hören, da Mia nun meine volle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ihre Augen waren plötzlich unnatürlich weit aufgerissen und starr ins Leere gerichtet. Sie richtete sich auf und tapste mit ihren nackten Füßen aus dem Zimmer.
„Mia? Wo gehst du hin?", sagte ich und stand nun auch vom Bett auf.

„Liv, alles ok bei dir?", hörte ich nun Henry besorgt fragen.
Ich antwortete nicht, sondern folgte Mia aus dem Zimmer.
Erst als sie auf die Diele trat, die Ernest Spencer, der frisch angetraute Ehemann meiner Mom eigentlich schon lägst hatte reparieren wollen, und sie den Großtante-Gertrud-hat-Bohnen-gegessen-Laut von sich gab, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Denn vor allem Mia vermied es diese Diele zu betreten um nicht das halbe Haus aus dem Schlaf zu ziehen.
„Henry, ich glaube, irgendwas stimmt mit Mia nicht"
Meine Stimme klang panisch und mich überkam sofort eine kalte Gänsehaut.
„Was ist los?"
„Ich bin mir nicht sicher... aber ich glaube...  ich glaube sie Schlafwandelt"

Mia war nun an der Treppe angekommen und ging Schritt für Schritt die Stufen runter. Unten angekommen ging sie zur Haustür und rüttelte an ihr, doch sie war abgeschlossen, das hatte ich heute höchstpersönlich mehrmals kontrolliert. Ich beobachtete gespannt das Geschehen. Mia schien mit jemandem zu reden, aber ich konnte nichts verstehen. Nur ihre Lippen konnte ich sehen, die sich hin und her bewegten.

„Was tust du hier?"
Ich schreckte hoch und hätte Grayson, der wie immer Oberkörperfrei, mitten in der Nacht vor mir stand, beinahe einen Schlag verpasst.
„Gott, Grayson! Tu das nie wieder!", sagte ich außer Atem und hob mein Handy, dass ich vor Schreck fallen gelassen habe, vom Holzboden auf.
Ich blickte auf den Mini-Display.
Dies war ein historischer Moment! Mein Steinzeithandy, dass für mich als unzerstörbar galt war kaputt! Der Display war völlig zersplittert, ein Paar Tasten hatten sich gelöst und lagen nun auf dem Boden.
Einerseits freute ich mich, denn nun hatte Mom keine andere Wahl, als mir ein neues Handy zu kaufen, doch andererseits hatte ich noch mit Henry telefoniert. Und nun dachte er wahrscheinlich ich hätte aufgelegt und zurückrufen konnte er ja auch nicht, weil ich nicht rangehen würde.

„Was tust du hier, mitten in der Nacht?!", fragte Grayson misstrauisch.
Ich wendete mich wortlos von ihm ab und deutete mit meinem Finger runter zur Haustür....die weit offen stand....
Kühle Luft füllte die Eingangshalle und schon wieder überkam mich eine Gänsehaut.
„Mia?", rief ich und hoffte, dass sie noch im Haus war. Doch niemand antwortete.
„Was will denn Mia um diese Zeit draußen?! Es ist Winter und arsch-kalt", fragte Grayson während er mir nach draußen folgte.
Mein Atem beschleunigte sich und mein Herz raste. Wir sahen Mia's Silhouette am Tor des Grundstücks. Ihr Nachthemd flatterte im kalten Wind. Schneeflocken fielen und puderten die ganze Stadt ein.
„Mia", schrie ich panisch, denn sie war nun dabei mitten auf der Straße einfach stehen zu bleiben.

„Was tut sie denn da...", flüsterte Grayson verwirrt und legte den Kopf etwas schräg.
„Verdammt, wir müssen sie sofort aufwecken!"
Kaum hatte ich den Satz beendet, rannte ich schon los. In der Ferne hörte ich plötzlich Motorgeräusche, die scheiße schnell näher kamen...
Es waren nur noch wenige Meter....
Ich sprintete auf Mia zu und riss sie von der Straße weg.
Ein schwarzer Sportwagen raste in beängstigender Geschwindigkeit an uns vorbei.
Mia blinzelte plötzlich wie wild.
„Was ist denn...."
Mia brach ab und hielt sich den Kopf.
Grayson war nun auch bei uns angekommen und hechelte nach Luft.
Wortlos nahm er Mia in den Arm und drückte sie.
Tränen stiegen in mir auf. Meine Knie drohten weg zu knicken, so sehr zitterte ich.
„Grayson... wäre ich auch nur 2 Sekunden später da gewesen..."
Ich erkannte meine Stimme gar nicht wieder. Doch Grayson schüttelte nur den Kopf und gab mir das Zeichen nicht weiter drüber nachzudenken und schloss mich in die Umarmung ein.

„Was ist denn mit euch los?", lachte Mia und schaute an sich herab. Sie zitterte plötzlich, als würde die Kälte sie erst jetzt erreichen.
„Was machen wir hier draußen...", flüsterte Mia und in ihrer Stimme klang ein Hauch von Vorahnung.
Und wieder brachte Grayson Mia zum schweigen. Wir schlenderten zurück ins Haus und kaum waren wir wieder in meinem Zimmer, schon schlief Mia tief und fest weiter.
„Denkst du das, was ich denke?"
Grayson's Stimme durchbrach die Ruhe im Haus.
„Notfall-Treffen im Hauptquartier", murmelte ich und machte mich bereit.
Drei Minuten später lag ich mit einem geblümten Halstuch um die Taille gebunden in Mia's Bett und schlief.

Kaum hatte ich die türkisene Tür hinter mir geschlossen, war ich schon aus meiner menschlichen Gestalt raus und tapste als Jaguar durch den Korridor.
Mrs Honeycutt's Tür lag mittlerweile nur einen Katzensprung von unserem Gang entfernt. Trotzdem musste ich davor noch an dem Gang vorbei, in dem Arthur's Tür lag. Noch immer lebte ich in ständiger Angst, Arthur im Korridor zu begegnen und seiner grausamen Rache ausgeliefert zu seien. Denn ich war mir sicher, dass ich diese nicht überleben würde...

Mrs Honeycutt's Tür viel ins Schloss und vier Augenpaare waren auf mich gerichtet.
„Kommst du hier zur Tür herein, sollst du auch willkommen sein", zwitscherte der Papagei auf der Stange.
Mrs Honeycutt strickte wieder mal an einem Schal und ließ sich nicht lange weiter abhalten.
Dann war da noch Grayson und Henry.
Mein Henry...
Er saß da, blasser denn je, tiefe Augenringe, glänzend graue Augen und seine wuscheligen Haare, die etwas länger als gewohnt schienen. Auch ein kleiner Bartschatten prägte Henry's Kinn und seine markanten Wangen. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Er stand auf, schloss mich fest in seine starken Arme und küsste mich sanft. Ich hatte ihn so vermisst.

Grayson räusperte sich.
„Ich will ja nicht stören, aber wir haben etwas wichtiges zu besprechen..."
„Was ist denn los?", fragte Henry gespannt.
„Ich glaube er ist wieder da...", flüsterte ich. Mich überkam eine Gänsehaut und ließ mich schaudern.

Silber ~ Das vierte Buch der Träume: Dream a little DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt