Kapitel 4

356 23 23
                                    

"You are more than just a heartbeat
in a world that forgets to love."

-perry poetry
••


Camila

Die Fahrt ans andere Ende von Miami, zu mir nach Hause, dauerte exakt 47 Minuten. Ich wusste nicht, warum ich so versessen darauf war, jeden Herzschlag zu zählen, aber um mein Gedankenkarussell zum Schweigen zu bringen oder zumindest weitgehend einzudämmen, brauchte ich eine Beschäftigung. Die Nacht rauschte an mir vorbei und ich versuchte jedes Licht, das vor mir aufflackerte in seine Bestandteile zu zerlegen. Wie hell erstrahlte die Stadt gerade? Erinnerte sie an die Sonne oder den Glanz des Mondes? Ich atmete zum vermutlich zehnten Mal während der letzten halben Stunde tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Der Taxifahrer war glücklicherweise taktvoll genug, um mich nicht zu fragen, ob es mir gut ging. Tat es das denn? Ich hatte keinen blassen Schimmer, auch wenn jede Empfindung in mir danach schrie, diese Frage zu bejahen. Mir waren noch vor wenigen Stunden Geschichten erzählt worden, von denen ich niemals auch nur geahnt hätte, dass ich sie würde hören wollen. So sehr ich auch versuchte, jeden Tag zu lieben, gab es doch Augenblicke in denen ich das Gefühl verspürte, nicht zurückgeliebt zu werden. Heute Abend war es anders gewesen. Ich hatte zwar nur eine von vielen dargestellt, war mir aber auf die schönste Art und Weise nur für mich vorgekommen. Ich hatte noch während dieser Zwinker des Schicksals, darum gebetet, dass dieses Gefühl nicht sofort wieder verschwand, nachdem der letzte Ton verklungen war. Und dann war ich ihm begegnet. Dem Menschen, der vor 20.000 Ebenbildern seine Seele hatte zerspringen lassen und es auch noch mit solch einer Selbstsicherheit und Verwundbarkeit getan hatte, als wäre es seine erste Show und nicht die Tausendste. Er hatte mir zugeflüstert, dass ich an Kraft gewinnen konnte, dasselbe zu tun. Und das Verrückte: Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich nicht geändert. Nicht einmal, nachdem ich, eine Wildfremde, die in jeglicher Art eine Bedrohung für ihn hätte darstellen können, seiner Schwester aus einer brenzligen Situation geholfen... oder sie hineinmanövriert hatte. Es wurde alles zu einer Frage der Perspektive und für solche war das Leben meistens nicht gedacht. Auch wenn mein Herz, mich dazu beglückwünschte, dass ich meinem Instinkt gefolgt war, überwiegte der leise Spott meines Kopfes.

Was hast du dir nur dabei gedacht?

Ich hatte aus Versehen sein wollen, wer ich glaubte sein zu können. Und auch wenn aus irgendeinem schön geredeten Grund zu denken versuchte, dass es so in Ordnung war, hätte ich zehn Minuten bevor das Taxi in meiner Siedlung hielt, alles darum gegeben, mich zu entschuldigen. Ich hatte eine unsichtbare aber doch klar gezogene Grenze überschritten und dabei vermutlich mehr Schaden angerichtet, als gut gemacht. Mein Fazit dazu fiel simpel aus: Scheiße.

Schlimmer waren diese Augen gewesen. Shawns Augen, die ehrlichsten, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatte. Vielleicht hatte ich ihr Leuchten und die Bestätigung in ihnen, dass ich zumindest eine kleine Sekunde lang verstanden wurde, auch nur herbeifantasiert. Wahrscheinlich hatte ich ihm und Aaliyah eine der lächerlichsten Stories überhaupt geliefert und würde, zumindest bis zu deren nächster Erinnerung, als die verrückte „Fast-Schwester" betitelt werden. Ich seufzte. Ich würde wohl nie wissen, was ich an diesem Abend angerichtet hatte. Was mit ziemlicher Sicherheit nur gut sein konnte.

Das Spiel meiner Vorstellungskraft fand ein jähes Ende, als das kleine Taxi vor dem Hochhaus hielt, in dem ich wohnte. Es gehörte der klassischen Mittelschicht an und war mit meinen Schichten im „Rosario" und dem was ich als Tanzlehrerin meiner kleinen Gruppe dazuverdiente, gut finanzierbar. Mit keinem meiner Nachbarn war ich jemals in einen Konflikt geraten und bemühte mich stets nur durch ein Lächeln zu jeder Tageszeit aufzufallen. Vielleicht mochte ich, besonders von der älteren Generation des „Blocks" wie das Wohngebäude von den meisten genannt wurde, als naiv und penetrant abgestempelt werden, aber vielleicht – und diese Hoffnung würde ich niemals begraben – war jemand dabei, der ein Lächeln brauchte. Wenn nicht von mir, dann von jemand anderem. Egal, wie sehr man darum kämpfte, unbeschadet durchs Leben zu kommen, oder wie sehr man um Anerkennung rang...Manchmal brauchte es einfach nur ein Lächeln, um zu sagen: „Ich weiß, dass gerade schwer ist, aber ich weiß auch, dass dir dieses Leben gegeben wurde, weil du stark genug bist, es zu meistern. Allen Widrigkeiten zum Trotz." Genau so jemand wollte ich sein. Es mochte passieren, dass ich in meinem Leben keine Deals in Millionenhöhe abschloss, niemals den Mount Everest bestieg, oder von heute auf morgen nicht mehr tanzen konnte – letzteres wäre fatal, ja – aber rückblickend wollte ich Hoffnung gegeben haben und wenn ich es nur im Augenblick getan hatte. Und mit einem freundlichen Blick, einem guten Gespräch oder einem „Rosario-Latte" aufs Haus ein Licht ins ungewisse Dunkel zu bringen, war doch eigentlich Erfolg genug. Oder?

Trotz allem beschlich mich nach 22 Uhr auf den Straßen meiner Heimatstadt und auch im „Block", der eigentlich nie an „Zwischenfällen" beteiligt war, ein mulmiges Gefühl. Denn dem Anführer einer Gang in Little Havanna war mein braves Coconut-Grove-Lächeln egal. Wenn es hart auf hart kam, konnte ich eine Handtasche weniger besitzen, belästigt werden, oder...sterben. Oft schmerzte es regelrecht, zu wissen, dass in zwei Stadtteilen, die in meinem Leben solch eine große Rolle spielten, zwei unterschiedliche Universen herrschten. Aber bis jetzt hatte ich nie verlernen müssen, mein Zuhause zu lieben. Ein Atemzug nach dem nächsten, ein guter Gedanke, wenn die Sonne aufging. Vielleicht blieb das Karma an meiner Seite.

Jetzt tat es das jedenfalls. Ohne zu trödeln, bezahlte ich das Taxi und lief schnellen Schrittes in Richtung Haustür. Meine Absätze klackerten auf dem Boden und hallten so laut von den Wänden wider, dass ich Angst bekam, die Umgebung aus ihren Betten zu reißen. Müdigkeit kroch mir in die Knochen und als ich daran dachte, in wenigen Minuten, wie ein Stein ins Bett fallen zu können, wurde mir augenblicklich warm. Bevor ich die letzten Schritte zur Haustür ging, schloss ich die Augen. Dann hörte ich sie. Die Melodie in meinem Inneren.

„When you fall asleep tonight, just remember that we lay under the same stars..."

Ich schüttelte die Erinnerung an die weiche, samtige Stimme eines Kanadiers aus meinem Kopf und schloss etwas schneller als sonst auf.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die schwere Holztür und atmete weiter.

„Du wirst nie alleine sein. Du wirst nie alleine sein. Du wirst nie alleine sein.", versprach ich mir stumm. Oder zumindest hatte ich geplant, stumm zu sein. Denn als ich meine Augenlider hob, wurde ich von zwei gellenden Schreien überrascht. Und eine der Stimmen war meine eigene.

-

Naaa, wer hat Camila da wohl überrascht? :P

Meine Worte zum Sonntag... ;) Ich hoffe sehr, dass euch das Kapitel gefällt und freue mich auf euer Feedback. <3

Wer von euch hätte eigentlich Lust, heute auch noch das nächste Kapitel zu lesen? :)

Alles Liebe,

Maggie <3

nothing compared to you - s.m. & c.c.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt