Als ich die Augen öffne, fühlt sich alles gleich wie zuvor an. Diesen Ort würde man als Krankenhaus bezeichnen, bloß werden hier nicht Leben gerettet, sondern es werden Leben genommen. Ob die winzigen Kreaturen im Leibe ihrer Mütter als Leben anerkannt werden, ist natürlich diskussionswürdig. Meiner Meinung nach, beginnt Leben ab dem Zeitpunkt als eine Spermienzelle eine Eizelle befruchtet und somit eine Zygote entsteht. Trotz allem liege ich in der Abtreibungsklinik und mache mir Gedanken um die Welt. Warum gab Gott uns die Kraft Leben beenden zu können? Ob das wieder beweist, dass es keinen Gott gibt?
Für eine Millisekunde denke ich dran, dass mein ungeborenes Kind, welches ich vor einer Stunde mit vollem Bewusstsein umgebracht habe, im Himmel komplett rein und glücklich ist. Sei froh, Kind, denn je länger du auf dieser Welt bist, desto dreckiger und dunkler wirst du.
"Sie können gehen" Kaum zu glauben, dass die Gesellschaft so locker damit umgeht. Eine kurze Prozedur, ein kleiner Eingriff und ein Leben ist beendet. Ich verlasse die Klinik, in der unzählige Embryoleichen liegen und nach einer Fahrt in der U-Bahn, Straßenbahn und 10 Minuten zu Fuß bin ich im dreckigen Zimmer, das ich mir gemietet hab. Alles liegt da wo es auch in der Früh gelegen ist. Den Sonnenuntergang rede ich mir als Sonnenaufgang ein und stelle mir vor, dass mein Kind sich noch in meinem Leib befindet. Ich hab's nicht getan. Und dann rinnt ungewollt eine Träne und ich lobe mich selbst. Ich bin stark. Alles für dich, Kind. Du darfst nicht her.
Dein Onkel sitzt wegen Mord fest, dein Opa ein Alkoholiker, deine Oma hat ihre Familie für einen Anderen verlassen und deine Mutter? Wurde mit 17 geschwängert, ist von zuhause abgehauen und versucht zweifelhaft deinen Onkel aus dem Gefängnis zu holen. 3 Regeln, Kind, um Leben zu können: beschäftigt sein, lieben und hoffen (F. Miralles). Ich habe nichts womit ich beschäftigt bin, niemanden, den ich liebe, aber ich hoffe mir so sehr, dass er unschuldig ist. Ich kann dir sagen, dass mein Leben davon abhängig ist. Und ich habe es auch geschafft. 7 Jahre, exakt 7 Jahre, brauche ich um die Unschuld deines Onkels zu beweisen.
Zu diesem Zeitpunkt bin ich seit einem Jahr Anwältin. Ich arbeite Tag und Nacht. Habe keinen Menschen um mich, außer Jan, der trotz meiner Art es geschafft hat, seit 3 Jahren mit mir befreundet zu sein.
Als die Unschuld meines Bruders ans Tageslicht kam, wünschte ich mir, dass er noch am Leben wäre.
Nach sieben Jahre Schweigens, tauchen die Menschen, die ich das letzte mal vor sieben Jahren gesehen habe, wieder auf. Der Erste, der mir begegnet, ist dein Vater, Kind.

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Mauer des Schweigens
Mystery / ThrillerWie Sokrates schon sagte: "Die Mehrheit kann sich irren, beruhe also nicht auf diese. Lass dir das Denken nicht von anderen erzwingen." _ Alle Rechte vorbehalten!