"Verda!"
Mein Name hallte immer wieder im Gang, doch nicht nur er, sondern auch Verzweiflung und Furcht. Wie etwas sichtbares schwebten sie in der Luft."Pass auf dich auf!" Seine zittrige Stimme löste etwas in mir aus. Vielleicht Wut, Trauer oder Enttäuschung? Aber mit Sicherheit Verzweiflung. War er schuldig? Wie könnte ich ihm helfen? Wie kann ich die Wahrheit herausfinden? Warum schwieg er?
Wahrheit. In dieser Situation war sie verloren. Sie versteckte sich in dieser Nacht. In der Nacht, in der alles geschah. Ich musste zurück, denn erst dann wäre ich mir sicher. Doch dafür müsste ich etwas annehmen.
Mit dominanter Verzweiflung traf ich in dem Moment, als sie ihn mit sich zogen, eine Entscheidung. Angenommen er wäre unschuldig, was würdest du tun? Mit tränenden Augen sah ich ihm hinterher. Ich musste ihm helfen, auch wenn ich mir nicht sicher war.
Seinen letzten Blick schenkte er nicht mir. Er sah nicht in meine schwarzen Augen, sondern in ihre blauen. Ob sie glaubte, dass er unschuldig sei?
11 Tage nach dem Gerichtsbeschluss darf ich ihn besuchen. Im Besucherraum sitze ich auf einem braunen Stuhl. Ich versuche die graue kalte Welt hier nicht zu beachten. Während ich auf meinen Bruder warte, werden Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Meine Welt wird braun, grau und kalt.
Ungeduldig rutsche ich hin und her. Innerlich hoffe ich, dass er mit mir spricht. Wenigstens mit mir, seiner kleinen Schwester. Er soll keine Mauer des Schweigens zwischen uns errichten.
Die Metalltür wird aufgeschmissen. Nun sehe ich ihn, in Handschellen, die ihm vom Wächter abgenommen werden. Er sieht mich kurz an und senkt den Kopf wieder. Ich versuche etwas von seinem Gesicht abzulesen, doch er hat eine kalte Fassade aufgesetzt. So kalt wie der Raum hier.
"Hat er dir was angetan?" Seine Stimme hat sich auch innerhalb von 11 Tagen geändert. Sie klingt tiefer und ausgewogener. Wo bleiben seine Gefühle? Warum bekomme ich nichts davon zu sehen, hören oder zu spüren? Ich schüttel den Kopf, doch vergaß, dass er mich nicht ansieht, also verneine ich nuschelnd. Während sich in meinem Gesicht und meiner Stimme so viel Emotionen abzeichnen, bekomme ich nichts von ihm.
"Warum schweigst du, Abi?" , flüstere ich und sorge dafür, dass er mir in die Augen sieht. Nun sehe ich etwas, was mich zum Weinen bringt. Scham. Was soll das heißen? Dass er schuldig ist?
"Erzähl mir die Wahrheit. Hast du diesen Mann umgebracht?" Diese Worte über die Lippen zu bringen, kostet mir Kraft. Gewissensbisse plagen mich. Womit beschuldige ich meinen Bruder? Jede Faser in meinem Körper strebt sich dagegen. Nicht er! Doch warum sitzt er dann hier?
"Verda", wispert er. Er sieht mich traurig an.
"Söyle, Abi" (Sag, Bruder) Wie verzweifelt ich doch klinge. Ich war es nicht! Das ist das einzige was ich hören will.
"Komm nicht mehr hierher" Nach diesen Worten steht er auf und läuft auf die Tür zu. Er hämmert zweimal auf diese und sie wird geöffnet. Halt, Nein! Ich stehe auf, doch schon steht er nicht mehr im Raum und die Tür wird zugeschlagen.
"Abi!" Ich rase zur Tür und hämmere drauf. "Aufmachen!", schreie ich und trete gegen diese. Hoffnung suchte ich, ein Funken mehr nicht. Nicht Mal diesen gab er mir.
Vielleicht hätte ich meine Gefühle diese 11 Tage nicht unterdrücken sollen, denn plötzlich kann ich nicht mehr mit dem Weinen aufhören. Meine Lungen drohen aus meinem Körper zu springen. Meine Augen reagieren so, als hätte man sie mit Säure geätzt. Alles passiert gegen meinem Willen.
Ich weiß nicht, wann mein Körper nachgelassen hat und ich bewusstlos auf den kalten Asphalt fiel. Als ich die Augen öffne, blicke ich der Realität wieder ins Gesicht. Sie ist aber nicht so grell wie das Zimmer dieses Krankenhauses. Und sie hört sich auch nicht wie die Stimme meiner Tante an, die neben mir ist und mich mit Fragen bombardiert. Die erste Frage lautet selbstverständlich, was hatte ich da zusuchen?
Ich war schon immer rebellisch und als ich die Nadel aus meinem linken Arm achtungslos rausziehe, beweise ich dies wieder. Ich beantworte keines ihrer dummen Fragen und erhebe mich vom Bett. Erstaunlicher Weise fühle ich mich ausgezeichnet. Ich ziehe meine Schuhe an und stürme aus dem Zimmer.
Ich habe keine Nerven für eine Tante, die nur auftaucht, wenn sie entweder von der Polizei oder vom Krankenhaus angerufen wird. Wie erwartet hat sie meinem Vater von meinem Vorfall erzählt. Dieser stellte mir dieselbe Frage. Mal wieder will sich keiner nach meinem Wohlbefinden erkundigen. Nein das wäre zu viel verlangt, aber musste er mir jetzt eine Schelle geben?
Ich setze mich mit einer pochenden Wange auf mein Bett und starre geradeaus auf das Bild auf der Kommode. Meine Mutter hält meinen Bruder in ihren Armen und grinst in die Kamera. Ich stehe auf und schnappe mir mein Handy welches ich seit 11 Tagen nicht angerührt haben.
Stimmt es, dass sie deinen Bruder festgenommen haben?
Dein Bruder hat jemanden umgebracht?!
Antworte doch!!
Ganz ehrlich, ich will keine Freundin haben, die die Schwester eines Mörders ist.Die Schwester eines Mörders. Dieser Satz geht mir so oft durch den Kopf bis ich mein Handy gegen die Wand schleudere. Tränen stauen sich wieder in meinen Augen an, doch nein. Ich werde nicht weinen. Ich weiß jetzt warum mein Bruder schweigt. Er schweigt, weil er nicht lügen kann. Er kann nicht sagen, dass er schuldig ist, denn er ist es nicht.
Mein Bruder ist der beste Mensch auf dieser Welt. Er würde keinem schaden. Nicht Fremden, nicht Freunden. Nicht einmal meinem gewaltsamen Vater. 8 Tage bis zu meinem Geburtstag, dann wäre ich 18 und hätte dieses Loch verlassen. Ich wäre zu ihm gezogen, wie geplant. Doch nun sitzt er auch in einem Loch.
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Mauer des Schweigens
Misteri / ThrillerWie Sokrates schon sagte: "Die Mehrheit kann sich irren, beruhe also nicht auf diese. Lass dir das Denken nicht von anderen erzwingen." _ Alle Rechte vorbehalten!