Blood of the Nephilim (2)

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Ein leichter Wind wehte durch ihre Haare. Es war nicht kalt und nicht zu warm. Einige Wolken schoben sich über den Himmel, und verdeckten manches Mal die Sonne. In ihrer einen Hand hielt sie ihre Spieluhr. Sie hielt sie ziemlich fest. Die Spieluhr war ihr heilig. Niemals durfte sie sie verlieren. Die Spieluhr spielte leise ihre Melodie, und Alexa lauschte ihr. Diese Melodie passte sosehr zu dem Rauschen des Windes, und dem Schlagen der Flügel der Engel, die unsichtbar über den Horizont dahinglitten. Sosehr wünschte sie sich auch einer dieser Engel zu sein. Sie wollte auch schweben, und die Weite des Himmels erleben. Es war ihr Traum, den sie eines Tages erreichen wollte. Sie sah über die wunderschöne Landschaft ihrer Heimat, die mit Weinbergen gesäumt war. Hinter den etwas höheren Bergen, die die letzte Reihe der weingesäumten Erhebungen bildeten, war das glitzern des Wassers des Ozeans zu sehen. Ihre Heimat konnte man mit einem Wort beschreiben: wunderschön. Während sie der melancholischen Melodie der Spieluhr lauschte, stellte sie sich vor, wie ein Engel über den Himmel zu gleiten, und die Pracht dieser Gegend von oben bewundern zu können. In diesem Moment war diese Sehnsucht nach dem Himmel stärker denn je. Welche Gefühle hatte man, wenn man am Grab seines Bruders stand? Sicherlich empfand man Trauer, Angst, Verlust. Man spürte das etwas fehlte, etwas, was vorher da, und unersetzbar gewesen war. Man empfand Wut. Warum hatte derjenige, der einem so wichtig geworden war, einen einfach so verlassen. Man empfand vielleicht Schuldgefühle. Warum hatte man sich nicht für das entschuldigt, was man zuvor getan hatte. All das und viel mehr vermixten sich, und dieser Gefühls-Cocktail schmetterte einen im schlimmsten Fall für Wochen nieder. Machte einen motivations- und antriebslos. Dieselben Fragen kreisen einem wieder und wieder im Kopf. Warum? Warum jetzt? Warum er? Doch es machte an sich keinen Unterschied, ob man sich das fragte, oder nicht. Es war unumgänglich. Es war Schicksal. Keiner kann das Schicksal ändern. Keiner kann die Uhr zurückdrehen. Keiner kann seine Entscheidungen revidieren. Bei Alexa war es nicht ganz so gewesen. Sie stand an dem Sarg ihres älteren Bruders, und sah ihm in sein leichenblasses Gesicht. Sie hatte sich daran erinnert, wie es aussah, wenn er lachte. Wenn sein Gesicht vor Freude strahlte. Sie vermisste dieses Lachen. Wie alle anderen, die an Sebastians Sarg standen. Wie alle anderen fühlte sie die Trauer, den Verlust, die Schuldgefühle. Aber nicht die Wut. Alexa hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass man nichts gegen das Schicksal tun konnte. Niemand hätte seinen Tod verhindern können. Jemand hatte ihr einmal gesagt: ‚Dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Wenn man sterben muss, dann muss man sterben. Da hilft es auch nichts, wenn man in letzter Minute gerettet wird. Der Tod sucht dich dann anders heim.' Seit dem Tag hatte sie keine Angst mehr vor dem Sterben. Ihr kam es nur umso natürlicher vor. Genauso hatte sie bei Sebastians Tod gedacht. Das Schicksal hatte für ihn so gewollt, dass er geht. Deswegen blieb die Wut aus. Niemand hatte irgendwas daran ändern können. Und am allerwenigsten konnte Sebastian etwas dafür. Alexa könnte anfangen, das Schicksal zu hassen, aber das tat sie nicht. Dann würde sie alles hassen, denn das Schicksal lenkte alles. Aber sie war nicht dumm. Und naiv auch nicht. An diesem Tag wurde ihrem geliebten älteren Bruder die letzte Ehre erwiesen, und sie hatte sich noch einmal von ihm verabschieden können. Auch wenn es das letzte Mal gewesen war. Doch sie hatte nicht nur Schlechtes empfunden. Als sie Sebastian so ansah, wie er still und weiß in dem hölzernen Sarg lag, freute sie sich für ihn. Er durfte die Weiten des Himmels erkunden. Es war ihr Wunsch, der ihm erfüllt wurde. Wenn das keine Ehre war, dann wusste sie auch nicht. War es nicht das, worauf man sich freuen konnte, wenn man starb? Viele waren der Meinung, es gäbe keine Engel. Doch Alexa dachte nicht so. Es gab sie. Nicht sichtbar, aber verborgen. Und Sebastian würde einer von ihnen sein. Das war das Wunderbarste, was sie sich vorstellen konnte. Er würde über sie wachen. Wie es Engel nun mal tun. In dem Moment, als Alexa vor dem Sarg stand, fühlte sie sich nicht alleine. Sebastian war bei ihr. Er lag nicht nur leblos vor ihr, nein, er war bei ihr, und beschützte sie. „Alexa!", sie wurde unsanft aus dem Schlaf geweckt. „Bist du immer noch nicht wach? Du musst in die Schule!" Das war ihre Mutter. Wieder einmal wollte sie sie dazu animieren aufzustehen, und in die Schule zu gehen. Aber wie bei jedem anderen Mal würde sie daran scheitern. Alexa wollte nicht. Sie war noch nicht bereit dazu. Sie würde die Frustration, die die Schule einem manches Mal bot, noch nicht aushalten können. Zusätzlich zu dem Trauern um ihren Bruder. Außerdem ärgerte sie sich zu sehr. Ihre Eltern verhielten sich, als wäre nichts gewesen. Als wäre ihr Sohn nicht gestorben. Als wäre es ein ganz normaler Tag, an dem ihr einziges Kind, ihre 16-jährige Tochter Alexa in die Schule musste, und sich wieder einmal weigerte. Sie konnte ihre Eltern nicht mehr leiden. Sie nahmen seinen Tod einfach so hin. Gut, sie trauerten, aber das tat doch jeder. Das war nichts Besonderes. Aber Sebastian hatte das nicht verdient! Abgesehen einmal davon, dass er immer vorbildlich gewesen war, konnte man das doch nicht fair nennen! Er war ihr Sohn! Ihre Eltern waren verantwortungslose Eltern. Alexa kam nicht mehr mit ihnen klar. Unter solchen Umständen hatte man doch keinen Grund dazu, auf sie zu hören. Sie tat es auch nicht mehr. Wenn sie ihnen mal über den Weg laufen sollte, sagten sie immer irgendwas von wegen einer Therapie, oder einer Trauerberatung. Aber das brauchte sie nicht. Eigentlich hörten sich die Vorschläge ihrer Eltern albern an. Alexa trauerte nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in dem Ausmaß, indem sie sich nur noch heulend in eine Ecke verzog. Außerdem war sie keine von denen, die sich nur noch schwarz um die Augen malten, und sich dunkel anzogen, nur weil sie anzeigen wollten: ‚seht her, ich trauere.' Sie war weder Emo noch Goth. Also sollten sich ihre Eltern wohl kaum beschweren. Eigentlich war sie das Gegenteil: Alexas hellblaue Augen waren immer hell geschminkt. Sie legte nie dunkles Make up auf ihre helle Haut, und ihre lockeren, welligen Haare trug sie immer offen. Außerdem trug sie immer helle Sachen. Insgesamt dürfte sie für ihre Eltern kein Grund zur Aufregung sein, doch offenbar war sie es für sie schon. Oft sprachen sie mit Verwandten über sie, ohne dass sie eine Ahnung davon hatten, was sie dachte, und fühlte. Alexa war nicht allein. Fast jeden Abend lag sie auf dem Bett, zog die Spieluhr ihres Bruders auf, und erzählte ihm, was so los war. Immer hatte sie das Gefühl, er würde zuhören. Natürlich würde sie kein Zeichen bekommen. Engel waren unscheinbar. Aber doch spürte sie seine Gegenwart ein wenig. Und das bestärkte, und tröstete sie. Sebastian war immer noch da. Nur unsichtbar, und ohne die Fähigkeit, sich bei ihr bemerkbar zu machen. Natürlich wünschte sie sich, sie könnte ihn sehen, und berühren, oder mit ihm reden, aber das ging nicht. Er war gestorben, kein Mensch mehr, und das würde nicht mehr geändert werden können. Aber dafür war er jetzt etwas viel schöneres, und anmutigeres. Darum beneidete sie ihn. Was würde sie nicht dafür geben, auch so zu sein wie er. Und auch wenn der Weg ziemlich einfach war, sie konnte es nicht tun. Es durfte nicht so sein. Wenn es Zeit für sie war zu gehen, dann aber erst, wenn das Schicksal es so vorsieht, und nicht, weil Alexa Sehnsucht nach dem Himmel hatte. Wieder einmal lag sie auf ihrem Bett, und lauschte der Melodie der Spieluhr. Die Spieluhr war nicht groß, aber reich verziert. Ihre Melodie war melodisch, und ein wenig melancholisch, aber Alexa liebte es. Sie sah an die Decke. „Du hast ja keine Ahnung, was du verpasst, Sebastian." Sie konnte sich jetzt genau sein gekränktes Gesicht vorstellen, und musste lächeln. Er war immer der Typ gewesen, nichts verpassen zu können. Immer musste er genau wissen, was so lustig gewesen war. Aber die Art, wie er danach fragte, war einfach unvergesslich. Sebastian fragte immer so lange, bis man ihm es verriet. Am Ende mussten alle lachen, da er es sogar immer in Kauf genommen hatte, irgendwas Blödes tun zu müssen, um herauszufinden, wobei er nicht hatte mitlachen können. Alexa schloss die Augen. Bilder von ihm als Engel, und dem Himmel flimmerten hinter ihren Augenlidern vorbei. „Ich frage mich, wie der Himmel für dich sein mag, Sebastian." Sie lauschte. Stille. Natürlich. Er konnte nicht antworten, das war ihr klar. Aber sie hätte eine Antwort auf ihre Frage schon ganz schön gefunden. Schließlich wollte sie wissen, wie der Himmel war. Allein ihre Vorstellungskraft konnte sie nicht zufrieden stellen. Es juckte sie zu wissen, wie es war. Aber sie würde warten müssen, bis der Zeitpunkt gekommen war, es herauszufinden. Bis dahin musste sie sich wohl doch mit ihrer Vorstellung zufrieden geben. Ihr Handy klingelte. Alexa schnaufte. Sie langte rüber zum Nachttisch, und drückte die grüne Taste, ehe sie ihr Handy ganz an ihr Ohr hielt. „Was gibt's?", sagte sie. Das war der übliche Spruch, wenn sie an ihr Handy ging. „Alexa? Ich bin's, Liam." Okay, damit hatte sie schon fast gerechnet. Liam war ihr bester Freund. Es war nett von ihm, sich zu melden, und irgendwie freute sie sich, seine Stimme zu hören. Sie hatte ihn ewig nicht gesehen. Schließlich ging sie schon seit einem Monat nicht mehr zur Schule. Seit dem Tag, an dem Sebastian gestorben war. Liam war nicht vorbeigekommen, weil er dachte, es würde taktlos sein, einfach aufzutauchen. Sie war ihm dankbar, dass er es nicht getan hatte. Aber trotzdem würde sie ihn gerne mal wieder sehen. „Hey, Liam! Ich freu mich, von dir zu hören! Wie geht's dir?", sie konnte nicht anders, als dass ihr auffiel, dass ihre Stimme ein klein wenig brüchig war. „Gut, und dir wie es scheint nicht so." „Wie würde es dir in meinem Fall gehen?" Kurz schwieg er. „Wahrscheinlich nicht viel anders, als du dich fühlst." Das hatte sie erwartet. Liam konnte sich gut in andere Leute hineinversetzen. Und das war in Alexas Fall sehr hilfreich und angenehm. Er wusste sie zu trösten. Es war eine der besten Eigenschaften ihres besten Freundes. Liam hatte sie noch nie hängen lassen, und irgendwie hatte er immer im Gespür, was Alexa gerade am besten gebrauchen konnte. „Liam? Danke, dass du für mich da bist", meinte sie. Das leise Lächeln, das ihre Lippen umspielten, sah er nicht, aber würde er es sehen, würde er es zu schätzen wissen. „Für dich doch gerne, Alexa. Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst." Er wusste gar nicht, wie dankbar sie ihm war. Sie hatte das Bedürfnis, ihm das irgendwie zurückzuzahlen, aber sie wusste, dass er das nicht verlangte, und auch nicht wollte. „Danke", flüsterte sie ins Telefon. An der kurzen Pause die folgte, konnte sie erkennen, dass er am anderen Ende auch lächelte. Oder immerhin konnte sie es sich vorstellen. „Hey, Alexa, ähm... redest du noch mit Sebastian?" Seine Stimme war vorsichtig geworden. Er wollte sie nicht verletzen. Das war eine der Sachen, die sie auch an ihm schätzte. „Ja, das tue ich." „Er hat dir noch nicht geantwortet, oder?" Diese Frage war noch vorsichtiger gewesen als die vorherige, aber Alexa musste unwillkürlich anfangen zu kichern. Liam dachte wohl, dass sie jetzt annahm, sie sei verrückt, aber vermutlich hätte er sich wirklich ernsthafte Sorgen gemacht, hätte sie mit 'ja' geantwortet. „Liam, du weißt, dass er niemals antworten wird. Er ist nicht stofflich, und deswegen kann er auch seine Stimmbänder nicht benutzen." Er erwiderte nichts. Aber wahrscheinlich eher deshalb, weil er sich trotzdem Sorgen machte. „Ich glaube, er würde wollen, dass du wieder in die Schule gehst", meinte er schließlich, woraufhin eine beißende Stille entstand. Liam wusste, dass das Thema Schule bei ihr tabu war. Nach dem war passiert war, konnte sie nicht mehr. Jeder würde sie schief von der Seite ansehen, und wer weiß was denken. Nachdem sie diesen einen Monat lang nicht in der Schule war, konnte sie sich auch nicht dazu aufraffen, wieder dorthin zu gehen. Aber Liam hatte Recht. Sebastian würde wollen, dass sie wieder in die Schule geht. Sie schnaufte. „Ich werde sehen", meinte sie, aber ob das ernst gemeint war, musste sie sich selbst überlegen. „Toll!" Liam klang erleichtert, aber ob er das wirklich sein konnte, wusste sie selbst noch nicht.

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