7. Kapitel - Carl

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Nochmal langweilige Gefühlsduselei, diesmal mit Carl.
Und die Frage aller Fragen in der gesamten Geschichte.

***

Carl saß mit einem Zettel in der Hand in dem großen Sessel im Wohnzimmer von Marais Haus. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er vor einigen Monaten sich hier mit Marai unterhalten hatte, wie sie zusammen getanzt hatten und wie er dann noch vor dem Morgen gegangen war. Seitdem war er nicht mehr zurückgekehrt. Während er in den ersten Tagen hoffnungsvoll sein Erscheinen erwartete, wurde dann mit jedem Tag, an dem er nicht wiederkam, seine bittere Befürchtung mehr und mehr bestätigt. Marai war tot. Mittlerweile war das für Carl schon zur Wahrheit geworden. Denn würde er noch leben, hätte er es ihm zweifelsfrei irgendwie mitgeteilt. Wenn nicht persönlich, dann mit einer schriftlichen Nachricht oder durch einen Boten. Wie auch immer, es hätte irgendein Lebenszeichen von ihm geben müssen. Doch das gab es nicht. So hatte Carl seinen Tod irgendwann akzeptiert, sich wieder diszipliniert seinem Vollzeitberuf gewidmet und war nebenbei den Aufgaben nachgegangen, die Marai ihm gegeben hatte. Jene, die auf dem Zettel aufgelistet waren. Es war die 'Liste der Dinge, die du nach meinen Tod tun sollst' und sie bestand aus etwa einem Dutzend Stichpunkten, von denen die Mehrheit bereits abgehakt war. Carl nahm eine Stift und setzte einen weiteren Haken hinter der Aufgabe: 'Geh zu Hugo und gib ihm den kleinen Brief und pass auf, dass er ihn auch öffnet. Er wird etwas misstrauisch sein!'

Das war er wirklich gewesen, dachte Carl sich schmunzelnd. Als er gestern bei ihm zu Besuch war, hatte er den Feind seines Freundes zum ersten Mal persönlich getroffen und hatte festgestellt, dass er gar nicht so impulsiv und selbstverliebt war, wie er sich ihn auf Grundlage der Erzählungen Marais immer vorgestellt hatte. Nein, er war eher zögerlich und zurückhaltend gewesen. Carl hatte sogar eine Spur von Kummer in seinen Augen gesehen. Marais Theorie erwies sich also als wahr. Hugo fing schon an ihn zu vermissen und seinen Tod zu bedauern. Ob er wirklich verrückt werden würde? Carl hatte in seiner Zeit ohne Heim oft schon beobachten können, was Verrücktsein bedeutete. Es war schrecklich. Er bekam Mitleid mit Hugo. Wenn er nur wüsste, wo Marai den Abschiedsbrief genau versteckt hatte, könnte er ihn doch holen und ihn einfach so an Hugo überbringen. Dann gebe es doch vielleicht eine Chance, ihm zu helfen. Aber Marai hätte es nicht so gewollt, sagte er sich. Er hatte ihn auch schon dazu überreden müssen, überhaupt einen Abschiedsbrief zu schreiben. Aber warum wollte er Hugo nur so leiden sehen? Natürlich waren sie Feinde, aber wo dieser Hass seinen Ursprung hatte, wusste Carl nicht und wenn er Marai danach gefragt hatte, war die Antwort immer spärlich ausgefallen. Bisher hatte Marai ihm nur gesagt, dass die beiden einmal Freunde gewesen waren, es dann einen großen Streit gegeben hatte, der irgendwie in diese Feindschaft gemündet war. Den Grund für den Streit hatte er aber stets verschwiegen und genauso so wenig hatte er auf Fragen zu der Freundschaft geantwortet.

Carl wünschte sich, er könnte ihn danach fragen, was genau passiert war und warum er Hugo so sehr hasste. Aber das war jetzt leider nicht mehr möglich. Genauso wie alles Andere, was auf seiner 'Liste der Dinge, die ich vor seinem Tod hätte tun sollen' stand. Er nahm eine anderen Zettel vom Wohnzimmertisch in seine Hand. Sie war weitaus länger als die Liste der Aufgaben und er spürte, wie immer, wenn er sie ansah, dieses schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Es gab so Vieles, was er unbedingt mit Marai machen wollte. So viele Fragen, Gespräche, Unternehmungen, Emotionen. Und immer fiel ihm noch etwas Neues ein, welches er, sich qualvoll bewusst, dass es nie passieren wird, der Liste hinzufügte. Jetzt würde er eben auch die Frage nach dem Grund ihrer Feindschaft auf die Liste schreiben. Er wollte gerade mit dem Kugelschreiber auf dem Papier ansetzen, als ihm ein Detail, bei der anderen Liste auffiel. Es war wohl eine weitere Aufgabe, die jedoch, anders als die übrigen, in winzigen Buchstaben ganz unten auf dem Zettel stand. Er legte den Stift beiseite und griff nach dem anderen Zettel. Mit zusammengekniffenen Augen schaffte er es mühevoll jeden Buchstaben einzeln zu erkennen. Nach einer Viertelstunde hatte er die Wörter endlich entziffert: 'Wenn es dir nicht gut geht, ruf bei der Telefonseelsorge an!' Carl lehnte sich in den Sessel zurück. Er fühlte sich gerührt, dass Marai an sein Wohlergehen gedacht hatte. Normalerweise war das Sich-um-andere-Menschen-kümmern eine seiner Schwächen. Gewesen, fügte Carl in Gedanken hinzu. Er seufzte. Vielleicht hatte er seinen Tod doch nicht so gut akzeptiert, wie er gedacht hatte.

Er sah durch das leere Zimmer, auf den freien Sessel ihm gegenüber und fühlte sich auf einmal sehr einsam. Mit Marai war sein einziger Freund gestorben. Zu seinen Eltern und seinen Kollegen hatte er nur losen Kontakt. Und auch Amygdala, die ihm anfangs stets Trost und Hoffnung gespendet hatte, starb nur wenige Wochen nach Marai. Seitdem lebte er allein in Marais Haus und alles, was er hier sah, erinnerte ihn an frühere Zeiten. Es war eine Qual.

Das Telefon lag griffbereit auf dem Wohnzimmertisch. Ein Anruf könnte ihm vielleicht helfen. Carl nahm den Apparat und wählte die Nummer der Seelsorge. Er war sehr aufgeregt. Zum ersten Mal seit Marais Tod würde er mit jemanden über seine Gefühle sprechen.

Die Geschichte von Hugo und MaraiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt