Kapitel 2

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Ich habe nicht wirklich gut geschlafen, aber jetzt liege ich im Bett, sanftes Morgenlicht streichelt mich wach und ich komme wieder zur Vernunft. Als wären mit der Dunkelheit der Nacht einfach all meine Sorgen und Ängste wieder abgeklungen.
Jetzt erscheint mir das Klima viel hoffnungsvoller und positiver. Ich lächle einsam und setze mich in unserem Bett auf, schnappe mir das Kissen auf der Bettseite meines Mannes und umarme es. Es riecht nach ihm.
Gestern war mir alles unheimlich, aber jetzt vermisse ich Paul und ich bedauere es sehr, dass wir nicht nebeneinander geschlafen haben, dass ich mich in diesem Moment nicht an ihn kuscheln kann.
Gestern habe ich vollkommen überreagiert, oder? Mir war alles fremd, ich war überfordert, erschöpft, reizüberflutet. Und ganz plötzlich ist es mir passiert, dass ich die Fürsorge und Liebe meines Mannes fehlgedeutet habe und fast einen Psycho in ihm gesehen habe- völlig zu Unrecht!
Aber Schlaf ist die beste Medizin- sogar für meinen blödsinnigen Kopf.
Jetzt werde ich erstmal tief durchatmen und in meinem neuen/alten Leben ankommen, statt mir von jedem Mist Angst machen zu lassen!
Gerade, als ich mich bereit fühle, langsam den Tag zu beginnen, öffnet sich die Tür schleichend und Paul kommt herein, er reibt sich die Augen und er trägt die Jogginghose und das weite Shirt, das er gestern angezogen hat, als wir auf dem Sofa herumgelümmelt haben. Hat er etwa auf der Couch geschlafen? Warum...? Warum ist er denn nicht zu mir ins Bett gekommen...?
Wollte er wirklich rücksichtsvoll sein und mir meinen Freiraum lassen? Oder steckt doch etwas mehr dahinter?
Aber ich kann mir gerade keine Gedanken darüber machen, weil Erinnerungen mich durchströmen. Der Paul, der gerade vor mir steht, der Paul in den bequemen, lässigen Klamotten ist mir wieder so vertraut. Eine Figur, die ich mit meinen eigenen, noch vorhandenen Erinnerungen verknüpfen kann!
So habe ich ihn kennengelernt. So waren wir, bevor wir geheiratet und ein richtiges, gemeinsames Leben begonnen haben. Er war mein Mitternachts-Freund, kam nur in der Dunkelheit zu mir, damit wir Spaß haben konnten. Eine Alltags-Zerstreuung, die mich glücklich gemacht hat.
"Guten Morgen!", sage ich und kann richtig hören, dass meine Stimme meinen neugewonnenen Enthusiasmus aufgenommen hat.
"Guten Morgen.", sagt Paul- etwas weniger begeistert. Er sieht mich eine Weile an und sein Blick hat irgendwie etwas... raubtierhaftes. Dann schlüpft er ungefragt zu mir unter die Decke und ich bin so überrascht, dass ich nach Luft schnappe, richtig laut und auffällig. Ich hoffe, er denkt nicht, dass ich Angst habe- denn genau so hat es geklungen!
Aber er hat es anscheinend nicht mitbekommen. Er schließt mich in eine halbe Umarmung und drängt mich ein bisschen zur Seite, sodass wir zwei ineinanderpassende Löffelchen bilden. Jetzt kann ich ihn nicht ansehen. Nur seinen Atem in meinen Haaren spüren.
"Ich bin froh, dass du wieder bei mir bist.", flüstert er und ich werde hibbelig. Ich kenne ihn zumindest so gut, dass ich erkenne, dass seine Worte ehrlich sind und das macht mich glücklich. Denn gestern war ich für einige Sekunden nicht ganz sicher, ob ich nicht doch nur eine einzige Last für meinen Mann bin...
"Ich bin auch froh.", wispere ich, aber ich weiß dabei gar nicht so genau, was ich meine. Egal. Ich bin froh. Jetzt in diesem Augenblick bin ich es. Und alles andere ist doch egal- oder?
Ich bewege mich ein wenig in seiner Umarmung, ruckle hin und her- ich werde ein bisschen süchtig nach seiner Wärme und Nähe, die mir zeigt, das alles gut und richtig ist. Dieser männliche Körper mit all seinen Ecken und Kanten ist mir schon ziemlich vertraut, aber die Seele im Inneren gibt mir noch Rätsel auf.
Paul versteht wohl, worauf ich hinauswill, mit meinem Winden und Seufzen. Er presst sich an mich und küsst schweigend meinen Nacken. Seine Hände forschen herum- er musste 4 Monate darauf verzichten und das merkt man auch. Er will alles wieder neu entdecken. Ganz mühelos fügen sich unsere Körper ineinander und ich schließe verträumt die Augen.
Wir lieben uns in der Morgensonne, ein bisschen träge und schläfrig, aber das finde ich gut, es hat irgendwie etwas harmonisches.
Man muss nicht immer gleich schweißüberströmt in Leidenschaft ertrinken, finde ich. Und in unserer Situation sollten Paul und ich es auch langsam angehen lassen.
Nach dem Sex greift Paul an meine Schulter und dreht mich zu sich um, damit er mir in die Augen sehen kann. Er streichelt meine Wange, meinen Hals... Seine Hände sind liebevoll, aber wenn ich hochblicke, dann-... sehe ich diese kalten Augen und ich muss mich an den irrealen Schrecken von gestern Nacht erinnern.
Irgendwie wirkt er gereizt, aber ich kann nicht zuordnen, woher es kommt, warum er mich so ansieht...
Fragend strecke ich meine Hände nach ihm aus und berühre sein Gesicht. Er zuckt ein wenig, als meine Finger seine Haut streifen. ...Also... hat es doch etwas mit mir zu tun...? Irgendetwas stimmt nicht.
Ich spüre... eine merkwürdige Feindseligkeit, die da auf keinen Fall sein sollte. Nicht zwischen Ehemann und Ehefrau. Nicht zwischen einem strahlenden Retter und einem armen Unfallopfer, das gerade aus dem Koma erwacht ist.
Oh- ich bin wieder zu verwöhnt, oder nicht? Ich denke nur an mich und nie an Paul. Bestimmt ist er einfach nur erschöpft von den Strapazen, die es bereitet, für mich da zu sein. Sicher hat auch ihn meine Heimkehr gestern emotional aufgewühlt.
Es muss schwer für ihn sein, zu sehen, dass ich mich gar nicht mehr richtig an ihn, unsere Beziehung, unsere Ehe erinnern kann. Vielleicht kränkt es ihn- auch wenn niemand Schuld daran trägt.
"Danke.", sage ich leise und küsse seine Wange. Ich habe ihm viel zu wenig gedankt, in den letzten Wochen. Er war einfach großartig zu mir- und ist es immer noch. "Danke für alles."
Aber seine Augen bleiben kalt und undurchschaubar. Und er schweigt. Nur seine Finger sind noch immer an meiner Wange, ganz warm und zärtlich.
Das ist so widersprüchlich, dass ich mir dafür keine Erklärung mehr zusammenreimen kann.
Mehr Zeit. Wir brauchen beide einfach mehr Zeit. Das ist alles.
Aber trotzdem will ich den Prozess beschleunigen, damit wir bald wieder das glückliche Paar sind, das ich gestern auf den Fotos gesehen habe. Einen Moment lang tanke ich noch Energie bei Pauls ofenwarmen Körper, dann springe ich aus dem Bett und streichle im Vorbeigehen durch sein weiches Haar. "Ich mache uns Frühstück! Was hättest du gern?"
Er starrt mich müde an. "...Das musst du doch nicht tun. Du solltest noch eine Weile liegen bleiben und dich erholen."
"Nein, nein. Mir geht es gut! Du hast so viel für mich getan, da möchte ich auch etwas nettes für dich tun."
"Ah ja?" Paul hebt die Augenbrauen. "Ich weiß nicht, ob du das auch vergessen hast, aber du bist eine furchtbare Köchin."
Wow. Das ist ganz schön fies, aber leider stimmt es mit meinen Erinnerungen überein. Ich war noch nie gut im kochen und anscheinend habe ich es in meiner Zeit als Ehefrau auch nicht gelernt. Trotzdem, ganz schön harsch von ihm, mir das so ins Gesicht zu sagen- ohne ein Lächeln. Ich versuche es sportlich zu nehmen und grinse. "...Es ist doch nur Frühstück! Das kriege ich schon hin."
"Dann... würde ich zwei Spiegeleier nehmen. Wenn das in Ordnung ist.", murmelt er und lässt sich zurück auf die Matratze fallen.
"Ich rufe dich, wenn ich fertig bin."
Ich schlüpfe in meine Socken vom Vortag (weil ich ehrlich gesagt nicht weiß, wie meine Klamotten im Schrank angeordnet sind und ich mir nicht die Blöße geben will, vor Pauls Augen hilflos darin herumzuwühlen) und begebe mich hinab in die Küche.
Ich verdrehe die Augen, als ich allein mit mir selbst bin. Er traut mir nicht einmal Spiegeleier zu? Naja, so schlimm bin ich dann auch wieder nicht!
Die Zubereitung würde mir keine Probleme bereiten- aber die Küche tut es. Das gleiche Problem wie oben im Schlafzimmer beim Kleiderschrank- ich weiß nicht, wo die ganzen Sachen sind.
Mühsam öffne ich mit Fingerspitzengefühl alle Schubladen und alle Schränke, um mich zu orientieren. Ich will dabei ganz leise sein, kein einziges auffälliges Geräusch verursachen- denn sonst kommt vielleicht Paul heruntergelaufen und behandelt mich wie ein begriffsstutziges Mädchen, das sich nicht im Leben zurechtfindet. Ich mag seine fürsorgliche Art, aber- das kann nicht ewig so weiter gehen und ich möchte nicht, dass man einen Eiertanz um mich veranstaltet.
Ich bin doch ein ganz normaler, verständiger Mensch. Es ist nur so, dass ich im Moment ein bisschen orientierungslos bin- aber ich schaffe es auch allein aus diesem Zustand raus, ganz sicher.
Als Unterstützung brauche ich da eigentlich nur noch meine Streicheleinheiten von meinem Mann.
Momentan herrscht eine angespannte Stimmung- aber ich verdiene mir meine Liebe jetzt mit frischen, brutzelnden Spiegeleiern. So langsam habe ich den Dreh hier in der Küche raus, ich hab alles gefunden was ich brauche und mache mich an die Arbeit. Paul brauche ich gar nicht mehr zu holen, er wird vom Geruch und von den eifrigen Kochgeräuschen angelockt. Ich fände es schön, wenn er zu mir kommen, mich von hinten umarmen und küssen würde, aber er setzt sich nur an den Esstisch und als ich über die Schulter zu ihm gucke, macht er ein mürrisches Gesicht.
Er starrt in die Ferne und denkt nach. Worüber denkt dieser Mann nur so viel nach? Macht er sich Sorgen um mich, um meine Erinnerungen, die vielleicht nie zurückkehren? Sorgen um unsere Ehe, unsere Zukunft?
Aber während ich ihn so betrachte, habe ich das Gefühl, dass es gar nichts mit mir zu tun hat. Es geht dabei um irgendetwas anderes... aber ich habe keine Ahnung was in ihm vorgeht.
Verunsichert wende ich mich wieder meiner Pfanne zu und serviere schließlich das Frühstück, aber auch das muntert meinen Mann nicht wirklich auf.
Weil er so griesgrämig ist, versuche ich im gleichen Maß gutgelaunt zu sein, zum Ausgleich, aber ich glaube, das gefällt ihm noch weniger.
Vielleicht wäre es besser, einfach mal die Klappe zu halten- aber ich möchte so viele Dinge wissen... Kann man das einem Menschen verübeln, der die letzten 3 Jahre vergessen hat? Ich muss das Leben kennenlernen, in das ich wieder einsteigen will.
In meiner letzten Erinnerung bin ich 24, habe mein Design-Studium gerade hinter mir und arbeite bei meiner favorisierten Grafikagentur- ein stressiger, aber erfüllender Job. Ach ja, und nebenbei nach Feierabend date ich einen süßen Typen namens Paul.
"Habe ich noch meinen Job bei Jung & Jäger?", platze ich einfach heraus. "Bestimmt, oder? Was denkst du, wann soll ich wieder anfangen?"
Paul sieht mich an, als hätte ich chinesisch gesprochen. ...Er könnte sich ruhig mal Mühe geben, mir nicht solche vernichtenden Blicke zuzuwerfen, wenn er doch weiß, dass es gut sein kann, dass ich mich bei gewissen Dingen vertue, nach dem Koma und allem.
Aber in diesem Fall kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass ich falsch liege. Ich hab diesen Job geliebt... In meiner Vorstellung habe ich mir da die letzten 3 Jahre den Arsch aufgerissen und den Laden richtig nach vorne gebracht- und vielleicht auch die ein oder andere Beförderung und Gehaltserhöhung erhalten!
Aber so wie Paul mich ansieht, scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein...
"Du hast den Job gekündigt.", sagt er nur trocken und mampft seine Spiegeleier.
"Was...? Wirklich...? U-und wo arbeite ich jetzt?"
Er schüttelt den Kopf. "Nirgends. Vor etwa 3 Jahren wurde ich zum Accounting Manager befördert. Wir haben uns darauf geeinigt, dass mein Gehalt reicht, um uns über die Runden zu bringen."
"Was...?" Schlagartig vergeht mir der Appetit. Was sagt er mir da? Ich kapiere es immer noch nicht. "...Und ich? Was habe ich dann gemacht?"
Er zuckt mit den Achseln. "Du warst Hausfrau. Hast dich hier um alles gekümmert."
"Ehrlich?" Ich fasse es nicht. Diese Enthüllung kann ich überhaupt nicht mit der Marie in Verbindung bringen, an die ich mich erinnere. Nie hätte ich mich für eine Frau gehalten, die ihren Mann für sich arbeiten lässt... Ich mochte meinen Job doch so...
Nur Haushalt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich damit ausgeglichen war. Aber anscheinend... besteht mein Alltag jetzt nicht mehr aus Photoshop-Bearbeitung, Terminkoordination und Telefonkonferenzen mit Kunden, sondern aus Putzen, Kochen, Einkaufen.
War ich wirklich mit dieser Vereinbarung einverstanden? Mir fehlen die Worte.
Habe ich mich etwa so gravierend in mir selbst getäuscht? Wie sehr kann sich ein Mensch in 3 Jahren verändern...?
Mit 24 hätte ich mich jedenfalls nie in ein schickes Häuschen verpflanzen und mit wöchentlichem Haushaltsgeld von meinem hart arbeitenden Ehemann ausstatten lassen.
Ich fühle jetzt schon, wie sich die Tage elend vor mir ausdehnen.
Darüber muss ich noch mal mit Paul diskutieren, das muss sich dringend ändern...! Aber- ich glaube jetzt ist kein guter Zeitpunkt dafür.
Allgemein scheint er heute überhaupt nicht reden zu wollen.
"Ich habe mir noch ein paar Tage freigenommen.", erklärt er. "Du sollst es langsam angehen lassen. Ich werde mich um den Haushalt und die Erledigungen kümmern."
Ich nage auf meiner Unterlippe herum. Ach so, das heißt, ich habe noch weniger zu tun? Gestern war es ja noch nett, dass er für mich gekocht und mich verhätschelt hat, aber... das könnte langsam auch aufhören. Ich will auch etwas leisten!
Am liebsten würde ich gleich heute bei Jung & Jäger anrufen und darum bitten, dass sie mir meinen Job wiedergeben.
Paul schiebt seinen Teller weg und steht auf, ohne mich anzusehen. "Ich sollte mich schon mal auf den Weg machen."
"W-warte!", greife ich ein und eile ihm hinterher, an der Garderobe bleibt er schließlich stehen und sieht mich an.
"Ich würde dich gern begleiten!", sage ich und berühre seinen Arm. "Damit ich mich hier in der Gegend auskenne. Und in ein paar Tagen kann ich mich dann wieder um alles kümmern."
"Nein. Es ist zu früh dafür. Du bleibst erst mal hier.", weist er meinen Vorschlag eiskalt ab und ich stehe da wie ein begossener Pudel.
Ich glaube, jetzt erkennt er zum ersten Mal, dass seine kühle Art mich doch verletzt und er versucht es wiedergutzumachen, indem er mich zum Abschied küsst, aber ich fühle mich zu unwohl. "Bis später. Ich kaufe nur ein paar Lebensmittel ein.", flüstert er, dann öffnet er die Haustür und durch den Spalt erkenne ich sein Auto. Mein Verhältnis zu Autos ist irgendwie seltsam geworden- persönlich habe ich nichts gegen sie und eigentlich könnte ich mir auch gut vorstellen, bald wieder hinterm Steuer zu sitzen, aber trotzdem kriege ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich daran denke, dass eines dieser Dinger mal zu einer richtigen Todesfalle für mich geworden ist.
Autos- die hätten mich fast mein Leben gekostet.
Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, brummt der Motor auf und Paul ist weg. Jetzt bin ich allein und habe überhaupt nichts zu tun.
Was macht eine Frau wie ich in so einem Fall? Natürlich nur Blödsinn.
Hey, anfangs habe ich mich sogar nach sinnvollen Tätigkeiten umgeschaut, aber nachdem ich die Pfanne abgespült und zurückgestellt habe, gibt es in der Küche nichts mehr sauber zu machen, sie blitzt und blinkt und auch der Rest des Hauses ist staub- und schmutzfrei. Paul hat offenbar vor meiner Wiederkehr äußerst penibel geputzt, um es mir angenehm zu machen, aber es fühlt sich gar nicht wirklich gemütlich an, eher fast schon chemisch rein und zu perfekt um irgendetwas anzufassen.
Weil es nichts zu tun gibt, mache ich ein zweites Frühstück mit Schokopudding aus dem Kühlschrank und einem Bottich Eiscreme aus dem Eisfach. Fett, Kalorien und Zucker machen mich wieder ein bisschen glücklicher, auch wenn mir jetzt schlecht ist.
Nach einem kurzen Verdauungsnickerchen vor dem Fernseher auf der Couch stehe ich wieder auf und beginne, alle interessanten Gegenstände mit meinen Fingerabdrücken zu markieren, sie mir neu zu Eigen zu machen, mit allem vertraut zu werden.
Als ich im Erdgeschoss damit fertig bin, zieht es mich zurück in unser Schlafzimmer in der ersten Etage. Ich mache den Kleiderschrank auf und atme tief durch. Kleider machen Leute, sagt man doch- mal sehen was ich mir in den letzten Jahren hübsches zugelegt habe.
Meine Schul- und Uniphase sah kleidertechnisch höchst leger aus, ich kann mich kaum an einen anderen Look als Shorts und T-Shirt im Sommer und Jeans und Pullover im Winter erinnern. Meine Phase als Berufstätige in der schicken Agentur sah dann etwas eleganter aus, ich hatte viele Kostüme und hübsche Kleider für Events. Und... wie sieht jetzt meine Phase als Ehefrau (und Hausfrau, wie ich ja gerade erfahren musste) aus?
Witzig. Es ist eine Art Mischung aus den lockeren und den schicken Phasen, wie mir scheint. Nichts extravagantes, keine rückenfreien Kleider oder mörderische High-Heels, dafür aber auch keine rockigen, halb zerrissenen Jeans oder Band-T-Shirts. Ich hab mir anscheinend durchaus einen klassischen, höchst akzeptablen und vorallem erwachsenen Stil zugelegt. Ich sehe dezente Farben, pastellrosa, grau, schwarz, weiß, viel beige... Eines wird mir rasch klar- ich bin Pauls gepflegtes, hübsches Engelchen. Die Dessous die ich finde, sind ausschließlich hell und ich muss lächeln. Jetzt wünsche ich mir, dass mein Mann zurückkommt. Vielleicht begrüße ich ihn in dieser süßen, schneeweißen Spitzenunterwäsche.
Letztendlich habe ich dann aber doch nicht die Geduld dafür- immerhin habe ich überhaupt keine Ahnung, wann er wiederkommen wird. Er braucht jetzt schon ziemlich lang- dafür dass er angeblich nur ein paar Lebensmittel einkaufen will.
Gelangweilt beschließe ich, mir ein Bad einzulassen und den letzten Rest des Krankenhauses von mir abzuwaschen. Ich bin nicht ganz sicher, ob mein Kreislauf das nach dem langen Liegen im Krankenhausbett mitmachen wird, aber ein heißes Bad stelle ich mir gerade einfach so himmlisch schön vor!
Auf dem Weg zum Bad komme ich wieder an der geheimen Tür vorbei und halte inne. Das verbotene Zimmer meines Mannes. Dieses Stückchen Ungewissheit in meinem eigenen, ohnehin fremden Zuhause, das mich gestern in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch auch heute fröstle ich, als ich die Tür ansehe und an Pauls harsche Zurückweisung von gestern denke.
Er hat meinen Arm gepackt, als ich die Türklinke anfassen wollte...
Okay. Er ist nicht da. Ist in der Stadt, einkaufen. Es ist klar, was ich jetzt mache, oder?
Eine Weile zögere ich aber noch. Sollte ich... meinem Mann nicht einfach vertrauen? Wenn er mir sagt, ich soll da nicht reingehen, dann... hat er bestimmt seine Gründe und ich sollte das respektieren, oder?
Meine Unsicherheit kommt bestimmt bloß daher, dass ich ihn nicht mehr kenne, vielleicht hat er seine gewissen Grenzen und Regeln die nicht überschritten werden dürfen. Vielleicht ist es ja echt ein Hobbyraum, irgendwelcher Männerkram, der mich sowieso nicht interessieren würde.
Man muss seinem Mann doch auch ein paar Freiräume lassen, oder nicht?
Jetzt stelle ich mir vor, wie Paul völlig konzentriert da drin hockt und Modelleisenbahnen zusammenschraubt und mit analytischem Blick hin- und herfahren lässt. Darüber muss ich fast wieder lachen. Ich kann mir das wirklich gut vorstellen. In meinem ernsten Mann könnte sich ein richtiger Nerd verstecken, der ganz und gar in seinen komplizierten, langweilig wirkenden und für die Aussenwelt völlig unverständlichen Hobbys versinkt.
Aber meine Gedanken von gestern überfallen mich und die werfen ein ganz anderes, weitaus beunruhigenderes Licht auf die Sache.
Mein Mann könnte ein süßer, verschrobener Nerd sein.
Oder ein Psychokiller.
Jetzt zittert meine Hand, aber sie weiß genau, was sie will. Ich berühre die Türklinke, drücke herunter- nichts geschieht.
Sie ist abgeschlossen. Eine Tür in meinem eigenen Zuhause ist vor mir verschlossen.
Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich trete zurück.
Was auch immer das für ein Hobby ist-... mein Mann versteckt es zwanghaft vor mir, sperrt es weg.
Rasch gehe ich auf die Knie, robbe vor dem Schlüsselloch herum- aber ich sehe nichts, gar nichts, nur Schwärze. Ich glaube, er hat das Schlüsselloch abgeklebt.
Jetzt wird mir wirklich übel.
Ich versuche mit aller Kraft, mir einzureden, dass es nur Männerkram ist, nur Männerkram, nur irgendein Hobby, das ihm peinlich ist oder so-...
Aber bei all diesen Sicherheitsvorkehrungen erscheint mir das nicht mehr möglich. Es ist... irgendetwas anderes. Etwas schlimmeres.
Ich kriege Gänsehaut. Und-... ich will nicht mehr baden, ich kann mich nicht mehr entspannen, nicht einmal mehr mit Gewalt.
Und ich will nicht mehr hier drin sein.
Ich ziehe mich um, schlinge mir eine warme Jacke um den Körper und gehe zur Haustür. Ich will nur spazieren gehen und ein bisschen frische Luft schnappen, dann... dann wird es mir bestimmt schon viel besser gehen. Dann können meine Hirngespinste entfleuchen.
Aber die Haustür ist auch verschlossen.
Ich ziehe meine Hand von der Klinke zurück, als hätte ich mich verbrannt.
Paul hat mich in meinem eigenen Zuhause eingesperrt.

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