Kapitel 5

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Als Paul wieder ins Haus zurückkommt, sind seine Augen trocken. Er will mich nicht sehen lassen, was er fühlt. Das versteckt er also auch schon vor mir- zusammen mit tausend anderen Dingen.
Aber wir wissen beide, dass das, was hier passiert, nicht mehr normal ist, keineswegs. Deshalb ist es auch gar nicht mehr nötig, über den Vorfall mit meiner Mutter zu reden. Ich rege mich nicht auf und er muss sich nicht die Mühe machen, mich weiterhin anzulügen. Ich schmiede leise meine Pläne. Wenn nicht einmal meine Eltern mir helfen wollen, dann... dann helfe ich mir eben selbst. Morgen... schlage ich die Scheibe im Erdgeschoss ein und renne weg.
Weiter gehen meine Pläne leider noch nicht, aber das ist auch egal. Ich muss einfach raus hier, ich ertrage das nicht mehr.
Und von Tag zu Tag wird die Situation bedrohlicher, weil sich abzeichnet, dass sich nichts daran ändern wird.
Am Abend gehen wir einander aus dem Weg, düster schweigend und Nachts ist es wie immer- ich liege einsam in unserem Bett.
Das hat sich seit meiner Rückkehr nicht verändert. Er schläft noch immer auf dem Sofa. Anfangs war ich ein wenig enttäuscht darüber, aber jetzt, wo ich seine Gefangene bin, bin ich froh darüber. Ich weiß nicht, ob ich neben ihm schlafen will, in dieser Situation. Oder mit ihm...
Schon seit Tagen kann ich nicht mehr schlafen, deswegen liege ich jetzt nur mit meinem fiebrig erhitzten, hochangespannten Körper auf den kühlen Baumwolllaken und wälze mich herum, hin und her.
Aber dann dringt ein Geräusch in meine Gehörgänge und ich bleibe liegen wie ein erschossenes Tier, mit einem Schlag ganz, ganz ruhig. Ich kann Paul im ersten Stock hören... Da sind Schritte, ganz nah...
Eine Tür öffnet sich und ich weiß genau, welche es ist, ohne es zu sehen. Paul schleicht in sein verbotenes Reich.
Ich kauere mich auf der Matratze zusammen und lausche so angespannt, dass ich fast glaube, mein Trommelfell platzt.
Er versucht leise zu sein, immerhin weiß er, dass ich hier ganz in der Nähe liege. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es sehr weit nach Mitternacht ist. Natürlich geht er davon aus, dass ich schlafe.
Ich höre zurückhaltendes Rascheln, Gegenstände werden behutsam hin- und hergerückt, etwas wird verstaut, klack, klack, klack, ein Stück auf das andere.
Im Schlaf hätte ich das möglicherweise nicht gehört, es ist dezent, monoton- und ich muss mich fragen, ob er das schon seit Tagen so macht, als ich noch einigermaßen normal einschlafen konnte.
Doch plötzlich wird der fein abgestimmte, unauffällige Klangteppich von einem schrillen Geräusch unterbrochen, ein Klirren, Paul flucht leise. Dann ist es ganz, ganz still und ich halte es in meinem Bett nicht mehr aus.
Am liebsten... würde ich rausstürmen, ihn in seinem geheimen, verbotenen Raum überraschen. Vielleicht hat er die Tür ja nicht hinter sich abgeschlossen, weil er sich sicher fühlt, vielleicht könnte ich gerade jetzt in dieser Sekunde einfach reingehen.
Ich stehe auf, gehe zur Tür- aber ich habe zu viel Angst. Ich weiß nicht, was mich da drin erwartet. Ich weiß nicht, wie Paul reagieren wird, wenn ich aufdecke, was er da in seinem Revier treibt.
Vielleicht würde er dann wirklich endgültig die Beherrschung verlieren. Schon in den letzten Tagen habe ich gesehen, dass er manchmal kurz davor war, eine Grenze zu überschreiten. Er hat mich schon öfter am Arm oder am Handgelenk gepackt, grob, hart- schmerzhaft. Und dann habe ich den Ausdruck in seinen Augen gespürt, er hat sich in mich gebohrt. Für eine Sekunde... wollte er mir wirklich wehtun.
Und was wäre, wenn ich ihn ausgerechnet in seinem Reich ertappe, bei Dingen, die er unbedingt vor mir verstecken will, um jeden Preis? Was würde dann in ihm geschehen?
Ich will es nicht erfahren. Ich will... morgen lebend hier raus.
Nein, ich werde nicht todesmutig hinausgehen und mich allem stellen- aber ich kauere mich vor das Schlüsselloch des Schlafzimmers und schaue hinaus auf den Flur. Es ist stockdunkel, nur durch einen winzigen Schlitz unter der verbotenen Tür dringt ein kleiner Lichtschein. Noch immer ist es leise, Paul hat anscheinend seine Aufräumarbeiten beendet- oder für eine lange Pause unterbrochen.
Irgendwann... höre ich etwas anderes als zuvor. Unglaublich leise Stimmen, kaum hörbar, nur ein übernatürliches Gespenster-Wispern. Fast glaube ich, dass ich mir das einbilde. Ist das... real?
Telefoniert Paul etwa mit jemandem? Aber dafür klingt es zu leise, zu dumpf...
Ehe ich es einordnen kann, bricht es auch schon wieder ab und dann dröhnt wieder Stille in meinem Kopf. Erst das Geräusch der sich öffnenden Tür zerreisst sie und ich zucke zusammen, mein ganzer Körper verkrampft sich, als Paul auf den Flur tritt.
Bitte, komm nicht hierher, bitte, komm nicht hierher...!
Ich sehe ihn, angestrahlt vom spärlichen Licht des fremden Zimmers... Er hat wieder geweint...
Wie er so dasteht, zitternd, mit geröteten Augen, da möchte ich ihn trotz allem doch wieder nur in den Arm nehmen, ich weiß nicht, ich kann gegen dieses Gefühl nicht ankämpfen. Gerade jetzt sehe ich keinen sadistischen Wärter, keinen Frauenschläger, keinen gewalttätigen Ehemann- ich sehe einen gebrochenen Mann. Ich will es doch nur verstehen! Warum kann er es mir nicht einfach sagen?
Sollte es denn nicht so sein, zwischen Eheleuten? Sollten wir nicht immer ehrlich miteinander sein?
Gerade noch hatte ich Angst, dass er mich umbringt, aber ein Teil von mir würde jetzt gerne da raus, um ihn zu küssen, zu umarmen, all seinen Schmerz zu lindern.
Paul...
Meine Fingerspitzen streicheln hilflos über das Holz der Tür. Warum muss es so sein, zwischen uns...? Warum?
Er reibt sich die Augen und ich sehe, dass er todmüde ist. Einfach nur zutiefst erschöpft von diesem ganzen Drama zwischen uns. Von diesem Versteckspiel, diesen Geheimnissen. Warum hört er nicht einfach auf damit? Aber davor hat er, glaube ich, am meisten Angst. Vor der Wahrheit.
Ich habe auch Angst, aber-... ich will lieber die Wahrheit, als es ewig so weitergehen zu lassen.
Nun scheint er sich wieder zu sammeln- und auf einmal schnellen seine Augen in meine Richtung. Er starrt unsere Schlafzimmertür an, denkt an das, was sich darin befindet, an mich, das sehe ich ihm an. Und für eine Sekunde bilde ich mir sogar ein, er könnte mich sehen, mich, am Boden kniend, durch das Schlüsselloch linsend. Ich fühle, wie sein Blick sich in meinen spähenden Augapfel sticht.
Aber das kann nicht sein, oder? Es ist zu dunkel. Er kann mich nicht sehen. Oder?
Ich bleibe, wo ich bin- Bewegungen könnten Geräusche verursachen, die ihn tatsächlich anlocken. Angstschweiß tränkt mein Nachthemd aber ich harre aus und Pauls Körperhaltung entspannt sich irgendwann, sein Blick schweift wieder fort vom Schlafzimmer und von mir- erst jetzt sehe ich, was er in der Hand hält, es blinkt kurz im fahlen Licht auf: Der Schlüssel.
Der Schlüssel zum verbotenen Zimmer, den ich einfach nicht finden konnte, egal wie intensiv ich das Haus durchkämmt habe.
Ich will durch das Holz springen und ihn aus seinen Händen reißen. Dieser Schlüssel... Ich glaube, er allein hat die Macht, mich aus diesem Nebel der Unwissenheit zu führen. Wenn ich ihn benutze- wenn ich ihn in das Schlüsselloch schiebe, herumdrehe und dann den verbotenen Raum betrete- ich glaube, dann werde ich alles verstehen.
Alles, was seit meinem Erwachen geschehen ist. Und alles davor.
Vielleicht schieße ich mich hier zu sehr auf etwas ein, aber-... ich brauche diesen Schlüssel, ich brauche ihn einfach, das weiß ich!
Er glitzert gerade so verführerisch vor meiner Nase auf, aber er wird gleich wieder verschwinden und das macht mich richtig fertig. Die Lösung ist so nah- und doch so fern. Ich warte nur darauf, dass Paul den Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden lässt und dann wieder hinunter geht. Aber es passiert nicht so, wie ich es mir vorstelle, der Schlüssel findet auf andere Weise seinen Weg zurück in sein einsames Versteck und ich schaue gebannt dabei zu.
Am Ende des Flures, in der düsteren Sackgasse neben dem Badezimmer hängt ein Bild, ein simples schnödes Objekt, ein Platzhalter, weil man nicht für jede Ecke des Hauses ein schönes Foto zum aufhängen hat.
Darauf ist eine Orchidee zu sehen, schlicht, dezent gefärbt. Ein nettes Wohnaccessoire.
Paul greift an das Bild, hängt es ab, dreht es um- und er klemmt den Schlüssel innen in den Rahmen.
Er war die ganze Zeit da...? Die ganze Zeit- direkt vor meinen Augen?
Das ist eine dermaßen sadistische Gewissheit, dass ich es kaum aushalte. Aber- Geduld. Geduld. Jetzt weiß ich, wo der Schlüssel ist. Jetzt weiß ich, wie ich in den Raum kommen kann.
Paul löscht alle Lichter, ich höre seine Schritte auf der Treppe... und dann ist er weg.
Soll ich... es gleich wagen? Aber er könnte zurückkommen, er könnte mich erwischen-
Andererseits... Er hat sich weiterhin freigenommen, hat Home-Office-Tage aneinander gereiht-...
Er wird immer hier sein. Er wird mich überwachen. Ich werde keine ungestörte Minute mehr haben.
Deswegen... sollte ich die Nacht nutzen, oder nicht?
Trotzdem ziehe ich mich kurz zurück, setze mich in der Dunkelheit im Schneidersitz auf mein Bett, kaue an meinen Nägeln herum und warte. Ich starre den schemenhaft grünlich erleuchteten Zeiger meines Weckers an, der sich schleichend bewegt.
Ich stelle mir vor, wie Paul sich zurück auf das Sofa kämpft, wie er sich dort herumwälzt, vielleicht noch ein paar Tränen vergießt... Tränen, deren Ursprung ich nicht verstehen kann, weil er nicht ehrlich zu mir ist.
Ich stelle mir vor, wie er langsam aber sicher mit einem leeren, dumpfen Gefühl im Herzen einschläft. Ein traumloser, tiefer, erschöpfter Schlaf.
Nach einer Stunde stehe ich wieder auf. Ich kann nur hoffen, dass er jetzt schläft. Aber- jetzt ist es sowieso nicht mehr Paul, den ich fürchte. Hier gehen viel größere Dinge vor sich und meine Angst hat sich auf andere Bereiche meines Lebens ausgeweitet. Ich habe Angst vor der Wahrheit, weil sie so vehement vor mir versteckt wird- von Paul und sogar von meinen Eltern, wie es scheint. Ich habe Angst vor mir selbst, weil mir alle das Gefühl geben, ich hätte etwas getan, um all das zu verdienen, mein beengtes, einsames, liebloses Gefangenenleben.
Aber ich bin anders als Paul.
Paul hat ein kühles Temperament, er will verdrängen, will lieber Fassaden aufbauen und Geheimnisse entstehen lassen, statt sich in ein emotionales Loch fallen zu lassen.
Mein Temperament ist hitziger. Ich entfessele Wut und Trauer, statt mich zu verstecken.
Er verschließt die Türen- und ich öffne sie. Wir ergänzen uns. Deswegen haben wir geheiratet, nicht wahr?
Das hat er gesagt. Und ich erkenne es jetzt auch.
Ich schleiche auf leisen Sohlen hinaus, vorbei am verbotenen Raum, zum Ende des Flurs. Ich ahme Pauls Handlung von zuvor nach, nur umgekehrt, ich hebe das Orchideenbild an, drehe es um, pflücke den Schlüssel aus seinem Versteck.
Meine Hand zittert so heftig, dass ich ihn fast verliere.
Jetzt ist es soweit. Was werde ich finden? Was verbirgt sich in diesem Raum?
Vor Angst erstarre ich noch vor der Tür. Ich warte auf Pauls Atem in meinem Nacken, auf seine Hände an meiner Kehle, kurz bevor ich alles enthüllen kann- aber dann hole ich tief und äußerst leise Luft und schüttle diese Gedanken ab.
Paul schläft. Paul ist nicht die Gefahr. Er war aufgewühlt, grob und wütend, weil eine unausgesprochene Wahrheit zwischen uns lauert, aber er ist kein Psychopath, er ist kein Mörder, er würde mir niemals wirklich wehtun, das spüre ich. Er ist kein böser Mensch, ganz im Gegenteil.
Es ist nur das Geheimnis in diesem Raum, das ihn rasend und haltlos gemacht hat. Das ihn so kontrollsüchtig hat werden lassen, dass er die Kontrolle selbst verloren hat.
Das ist die einzige Erklärung, die ich finden kann.
Jetzt muss ich der Sache wirklich auf den Grund gehen. Ich stecke den Schlüssel hinein, kratze am Metall des Schlosses, weil ich so unruhig bin, aber irgendwann treffe ich das Schlüsselloch, schließe auf.
Ich gehe hinein. Der Boden ist sauber, keine Blutpfützen von Frauenleichen, die Paul genüsslich in seiner Freizeit zerstückelt hat, wie ich es mir manchmal ausgemalt habe, in meinen schrecklichsten Fantasien. Ich sehe wunderliche Silhouetten in der Dunkelheit, aber ich kann sie nicht zuordnen. Ich mache das Licht an.
Und dann wird mir alles egal. Es ist egal, ob Paul mich findet, weil ich das Licht angemacht und die Tür aufgelassen habe. Es ist egal, ob ich mich zu laut bewege und ihn damit aufwecke. Ich denke gar nicht mehr an Paul. Ich denke überhaupt nichts.
Ich gehe durch ein bizarres Wunderland und schaue mir alles ganz genau an. Es ist völlig anders als ich es mir vorgestellt habe. Wo ist der Computer, wo ist das Festnetztelefon, wo sind die Handys?
In der Ecke stehen einige Kisten und darin türmen sich bunte Haufen von Krimskrams, aber ich sehe kein Technikzeug darin. Daher kam wohl der Krach von vorhin... Paul hat hektisch Zeug da reingestopft, hat versucht, hier aufzuräumen. Oder besser gesagt, er wollte dieses Zimmer ausräumen. Er wollte alles hier rausschaffen und nur einen leeren Raum zurücklassen.
Ich entdecke auch, was das Klirren verursacht hat. Ein Bilderrahmen ist von der bunten Kommode an der rechten Wand heruntergefallen, als Paul hektisch andere Dinge wegräumen wollte, wie es scheint. Winzige Scherben haben sich auf dem Boden in einem kleinen Radius um den umgestürzten Rahmen verteilt. Aber ich hebe das Foto nicht auf, weil mir plötzlich schlecht wird und mich ein heftiges Kopfweh überfällt.
Langsam... wird mir klar...
Ich schaue auf das Kinderbett. Auf die Kuscheltiere, die auf der Bettwäsche mit den roten Rennautos sitzen und mich erwartungsvoll aus ihren großen, süßen Augen angucken. Sie fragen mich, wo ihr bester Freund geblieben ist und warum er nicht zurückkommt.
Und das frage ich mich auch.
Ich verstehe es immer noch nicht. Ich drehe mich um und sehe Paul. Er steht im Türrahmen und jetzt, wo er an seinem Vorhaben gescheitert ist, all das zu verstecken, fällt eine Last von ihm ab. Zugleich zerbröckelt auch seine Fassade und auf einen Schlag kann ich alles sehen, was unter der Oberfläche gebrodelt hat.
Es ist aber so viel auf einmal und es kracht mitten in meine momentane Verwirrung über die ganze Situation hinein und deswegen komme ich überhaupt nicht damit zurecht und stehe nur da, nur da, regungslos, erstarrt... Dieses Mal weint Paul direkt vor meinen Augen.
Die Tränen steigen auf, laufen herunter- es wirkt ganz mechanisch. Verwundert sehe ich ihn an.
Wo bin ich hier gelandet? Obwohl ich es innerlich schon weiß, würde ich mir wünschen, dass er es mir erklärt, dass er es ausspricht- vielleicht werde ich es dann verstehen können.
"Ich wollte nicht... dass du das siehst...", presst er hervor. "Ich wollte alles vernichten. Dann hätte wenigstens nur einer von uns darunter leiden müssen. Aber du-... du konntest... deine verfluchten Finger einfach nicht still halten...!"
Er schüttelt heftig und verzweifelt den Kopf und nun bricht seine Wut wieder aus. "...Das hast du nun davon, Marie...! Verdammt..."
Plötzlich passiert irgendetwas in mir, Hebel und Zahnräder werden in Bewegung gesetzt. Für eine Sekunde lasse ich ihn einfach stehen und gehe zu dem Bilderrahmen, der einsam und kaputt auf dem Boden liegt. Ich hebe ihn hoch, ich schaue das Bild hinter dem gesprungenen Glas an.
Paul und ich- freudestrahlend, wie auf unserem Hochzeitsfoto. Und auf meinem Arm ein Kind. Unser Kind.
Aber das kann nicht sein. Ich habe viel vergessen, ich weiß. Aber das... kann ich nicht vergessen haben. Ich kann nicht wirklich- mein eigenes Kind-
Die Erkenntnis kriecht in mir hoch, ich fühle Würmer in meinen Adern, ich will mich aufkratzen, ich will raus-... raus aus meinem Körper. Mir wird heiß und kalt und alles geht zu schnell. Ich zerschmettere an der Wahrheit wie an einer massiven Mauer.
Ich bekomme Panik, will irgendetwas tun- ich weiß ja nicht einmal, was ich fühlen soll, denn ich sehe nur... ein Foto. Ich sehe nur ein Foto.
Mein Kopf überschlägt sich, aber es ist nur ein Bild und ich erinnere mich nicht an diesen Jungen.
"Nein... Nein, nein, nein-" Ich lege das Bild weg, taumele zurück. "Nein...!!"
Paul fängt mich auf. Paul hält mich im Arm, während ich schreie und weine. Mein Baby...
Ich tränke sein Shirt mit meinen Tränen, mit meinem Schweiß, für eine Weile verliere ich mich nur in meinem Schmerz, aber dann bemerke ich, dass seine Umarmung voller Widerwillen ist und dann höre ich die unheilvolle, monotone Melodie, den er mir zuzischt.
"Du hättest das alles niemals sehen dürfen, du hättest das alles niemals sehen dürfen..."
Ich weiß nicht mehr, wohin, mit all den Gefühlen, ich löse mich von ihm und jetzt bin ich dran mit Wut, weil ich keinen anderen Ausweg mehr sehe. "...Wolltest du mein eigenes Kind vor mir verheimlichen?", schreie ich ihn an und er weicht zurück.
Seine Augen füllen sich mit Tränen, dann mit Zorn- nein, mehr als das. Hass. Nackt, pur, kalt.
"Alles wäre besser gewesen als die Wahrheit...", zischt er. "...Aber wenn du so versessen auf die Wahrheit bist... dann hoffe ich, dass deine Erinnerungen zurückkehren. Dann kannst du mir vielleicht erzählen, warum du an diesem Tag nicht auf die Straße geschaut hast. D-du... du... warst schon immer so... so leichtsinnig...! Mich hast du so oft wie einen Spießer behandelt, hast mich für meine Vorsicht belächelt... aber.. schau doch nur, was du getan hast...!"
Ich starre ihn nur an. Jetzt... fügt sich alles zusammen. Alles ergibt einen Sinn in diesem Kinderzimmer. Ich verstehe alles, was geschehen ist, bis zu diesem Punkt.
Paul will noch mehr sagen, noch mehr Gift speien, sich noch mehr Zorn von der Seele schreien, aber seine Kehle schnürt sich zu und er kann nur noch weinen. Er schluchzt richtig, er hält sich die Augen zu, versteckt sich vor meinen Blicken. Er hält das alles nicht mehr aus. Er kann mich nicht mehr trösten, er hat keine Kraft mehr, er musste die ganze Zeit über mit dieser grausamen Gewissheit leben und sie tief in sich vergraben, um mich vor meinem eigenen Fehler und meinem schrecklichen Verlust zu schützen. Er rennt aus dem Zimmer und ich bleibe zurück.
Weinend breche ich neben dem Bett meines unbekannten Sohnes zusammen, ich kralle meine Finger in seine Bettdecke, ich greife nach seinen Kuscheltieren und Schnuffeltüchern und rieche an ihnen, ich versuche, seinen Duft zu erahnen, ich versuche, mich zu erinnern...
Ich durchwühle das Kinderspielzeug in den Kisten, wie eine Verrückte wüte ich im Zimmer, auf der Suche nach meinen Erinnerungen und auf der Suche nach meinem Sohn, den ich auf mehr als nur eine Weise verloren habe.
Meine Erinnerungslücke umfasst nur 3 Jahre. Er war noch so jung. Mein Baby ist tot... Mein Baby... Und ich bin Schuld.
Jetzt verstehe ich. Ich verstehe den Zorn meines Ehemannes, den Zorn meiner Mutter. Ihm habe ich einen Sohn genommen und ihr einen Enkel.
Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich hatte Recht, ich hatte wirklich Recht- ich wurde zugleich bestraft und beschützt.
Paul... Paul musste unser Baby beerdigen, während ich im Koma lag. Er musste seinen Sohn zu Grabe tragen.
Ich kann nicht atmen. Es fühlt sich an, als würde mir jemand wieder und wieder in den Bauch schlagen.
Paul... mein geliebter Paul...
Was habe ich ihm bloß angetan... Was habe ich mir angetan...?
Was habe ich getan? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht.
Mein Sohn... Der Unfall war also doch meine Schuld. Ich war unachtsam. Ich sehe Bilder vor mir, ich weiß nicht, ob sie sich so ereignet haben oder ob das nur eine scheussliche Fantasie ist.
Ich sitze im Auto, halte an einer Kreuzung, beuge mich nach hinten, um nach meinem Sohn zu sehen. Mein Sohn mit den flachsblonden Haaren und den großen, dunklen Augen, die er von seinem Papa hat-... hatte-...
Ich lächle ihn an, er lächelt zurück, quietscht vergnügt, plappert ein paar Worte. Ich drehe mich wieder um, fahre wieder los, passe nicht so gut auf, wie ich sollte- und werde erfasst. Ich stelle mir vor, wie Glas zu uns hereinspritzt, während das aufeinanderscharrende Metall furchtbare, schreiende Klänge von sich gibt. Und mein Kind wird einfach... von der Wucht getötet. Zerquetscht. Zerschmettert.
Ich weiß nicht genau, wie es abgelaufen ist. Aber... es spielt auch nicht wirklich eine Rolle.
Er ist tot. Und ich trage Schuld daran. Irgendeine Art von Schuld. Und jeder hat das gewusst. Deswegen... wurde mir immer unterschwellige Wut entgegengebracht... Deswegen war ich einerseits ein Opfer, das mit Samthandschuhen angefasst und geschont werden musste- und zugleich ein Täter, ein Monster, ein schrecklicher, hassenswerter Mensch.
Das hat Paul gemeint, als er mit mir geschlafen hat und mir gesagt hat, ich würde es ihm schulden-...
Er meinte, ich schulde ihm ein Kind, weil ich ihm seines genommen habe.
In ihm muss sich Liebe und Hass auf solch unfassbar grausame Weise gemischt haben. Und das alles musste er hinter einer eisernen Maske versteckt halten, damit es nicht auffliegt, das alles, dieses absurde Theater.
Das... hätte niemals gutgehen können. Niemals. Aber er hat es versucht. Er hat sich nicht anders zu helfen gewusst. Gott, er musste... so viel durchmachen. Ich kann mir das nicht einmal ausmalen, ich weiß nicht, was ich an seiner Stelle getan hätte.
Der Unfall. Sein Sohn- tot. Seine Frau- schwer verletzt, im künstlichen Koma, niemand wusste, ob sie wieder aufwachen würde.
Er war ganz allein... Und er war so kurz davor, wirklich alles zu verlieren, alles auf einen Schlag. Unser Kind sofort- mich gleich danach, schleichend, über Monate hinweggerafft.
Und als ich dann doch erwachte und sich abzeichnete, dass ich meine Erinnerungen verloren hatte, als ich nicht nach unserem Sohn gefragt habe- da schöpfte er Hoffnung. Da hatte er diese... völlig wahnsinnige Idee. Und meine Eltern, in ihrer Trauer um ihren Enkel, in ihrem Entsetzen um meine Schuld haben ihm dabei auch noch geholfen. Er war verrückt vor Trauer. Er ist am Verlust erstickt.
Dachte er, es wäre einfacher, ein neues Leben in dieser Illusionsblase anzufangen? ...Paul... mein praktischer, cleverer Ehemann. Es erschien ihm wohl alles so logisch. So perfekt. Eine Situation, wie für seine Pläne geschaffen.
Das war seine Art, die Trauer zu bewältigen, das war seine Art, 'weiterzumachen'.
Meine Tränen versiegen erst, als komisches Licht ins Zimmer dringt. Ich bin ganz perplex. Es ist einfach... einfach so Morgen geworden. Ich stehe auf und meine Glieder schmerzen. Stundenlang habe ich einfach auf dem Boden in meinem eigenen Chaos an Erinnerungsstücken gekauert und ich habe es gar nicht richtig realisiert.
Paul...
Ich gehe hinunter zu ihm. Er sitzt auf dem Sofa. Auch er hat nicht geschlafen, ich sehe es ihm sofort an. Seine Augen sind leergeweint.
Ich bin nicht mehr wütend wegen seiner Übergriffe, ich bin nicht mehr empört über das Geheimnis, das er vor mir verstecken wollte.
Und er ist auch nicht mehr wütend, das sehe ich. Etwas ist... jetzt ganz anders geworden.
Ich setze mich zu ihm. Er sieht mich an und ich schließe ihn in die Arme, er lässt es zu. ...Er war bestimmt ein so wundervoller, fürsorglicher Vater... und er ist völlig zerbrochen, weil er unseren kleinen Schatz über alles geliebt hat...
"Es tut mir so Leid...", weint er an meinen Hals. Auch ich weine jetzt wieder. ...Ich spüre, das wird noch Wochen und Monate und Jahre so gehen. Immer wieder wird ein Moment kommen, in dem ich... einfach weinen muss. Vorallem, wenn die Erinnerung zurückkommen sollte. Die wahre Erinnerung an diesen pausbäckigen, süßen Jungen, den ich bisher nur von dem Foto kenne.
"Es tut mir Leid, was ich gestern Nacht gesagt habe... Du... trägst keine Schuld, Marie, ich habe es mir leicht gemacht, indem ich-... meine Wut an dir ausgelassen habe... aber in Wahrheit hätte mir das ganz genauso passieren können, mir auch, jedem hätte das passieren können, verstehst du...?"
Ich halte ihn im Arm. Meine Schuld... Meine Schuld... Selbst wenn ich rein gar nichts mit seinem Tod zu tun gehabt hätte, ich würde immer Schuld empfinden. Selbst wenn es ein Unfall ohne jegliche falsche Beteiligung meinerseits gewesen wäre. Ich würde mich immer fragen... wenn ich an jenem Tag anders gehandelt hätte, wäre er dann noch am Leben? Wenn ich eine Minute später aus dem Haus gegangen wäre, wenn ich nicht mit dem Auto sondern dem Bus gefahren wäre, wenn ich meinen Kleinen zur Babysitterin gebracht hätte, statt ihn mitzunehmen-...
Was wäre wenn, was wäre wenn, was wäre wenn.
"Ich..." Meine Stimme klingt so zerbrechlich... ein verschwindend geringer Hauch von Nichts. "Ich weiß nicht einmal... wie er heißt..."
Er löst sich von meinem Körper, sieht mich an. "Daniel.", sagt er vorsichtig und greift meine Hand, hält sie ganz fest.
Er glaubt wohl, jedes Detail könnte einen gewaltigen Ruck auslösen, der all meine Erinnerungen zurückholt, aber so ist es nicht.
Trotzdem löst der Name etwas in mir aus. Ich bin gerührt und todtraurig zugleich. Diesen Namen habe ich schon immer über alles geliebt und Paul weiß das auch-... er hat mir die Namenswahl überlassen, nicht wahr?
Ich weine wieder. Jetzt, da das Geheimnis des verbotenen Raumes endlich aufgedeckt ist, können wir einander gegenseitig trösten, auf allen Ebenen. Wie das so ist, in unserer Ehe, wird auch unser Schmerz sich ergänzen. Und unser Trost.
Wir können das... irgendwie schaffen... Irgendwie... Ohne Geheimnisse kann es funktionieren. Irgendwie. Irgendwie.
Heute weiß ich noch nicht, wie. Aber... das sind die nächsten, fernen Schritte. Erst einmal muss die Wahrheit wirken.
Sie ist so grausam, ich werde daran zerbrechen... Aber wenn Paul da ist, kann er meine Einzelteile vielleicht wieder zusammensetzen- und ich kann es bei ihm genauso versuchen.
Wir halten uns ganz fest, wie zwei verlorene Waisen. Verwaiste Eltern, das sind wir.
"Daniel...", flüstere ich. In den letzten Jahren habe ich den Namen bestimmt... eine Milliarde Mal gesagt. Mein Engel, mein Schatz, mein süßes, geliebtes Baby, mein kleiner Daniel.
"Marie..." Er küsst mit verzerrten, verkrampften Lippen meine Stirn, berührt meine Wange. "...Willst du... ihn sehen...?"
Er holt sein Smartphone aus seiner Hosentasche und mir wird übel vor Unbehagen und Angst. Ich weiß nicht, ob ich das kann...!
Aber ich habe so große Sehnsucht...
Schließlich nicke ich scheu und er sucht mit zittrigen Händen ein Video heraus.
"Ich sehe es mir oft an... fast jeden Tag...", beichtet er mit Tränen in den Augen. Da geht mir noch ein Lichtlein auf. Heute Nacht habe ich doch 'Stimmen' aus dem Raum gehört, Stimmen, die zu undeutlich waren, um von einem Telefonat zu stammen. Es war eine Tonaufnahme. Ein Video von Daniel, das Paul sich angesehen hat.
Er spielt es ab und schon die erste Sekunde lässt mich zurückweichen, wie ein Tier, das nicht weiß, womit es konfrontiert wird. Es ist zu unwirklich. Es tut zu weh.
"Nein, bitte!", schreie ich los, als ich seine Stimme höre... Daniels weiche, winzige Stimme, die versucht, vorsichtige Sätze zu bilden.
Paul steckt das Handy weg, starrt in die Ferne. "...E-...Entschuldigung... ich dachte, es wäre..." Er schüttelt den Kopf. "Das war dumm von mir... Es ist noch zu früh..."
Es ist noch zu früh, du musst dich schonen, die Ärzte haben gesagt- seine ganzen Ausreden der letzten Wochen ziehen an mir vorüber und ich balle die Hände zu Fäusten. Nein. Das will ich nicht mehr... Ich stelle mich gegen die Geheimnisse, gegen das Schweigen. Egal wie weh es tut.
"Warte..." Ich nehme seine Hand. "...Zeig es mir... Ich schaffe... ich schaffe das schon..."
Und dann sehen wir uns das ganze Video an.
Der kleine Daniel sitzt in seinem Kinderzimmer, das in dem Video nicht so trostlos und kalt ist wie jetzt, sondern quietschbunt, erfüllt mit Leben und Liebe. Seine kleine, quicklebendige Persönlichkeit ist eine Mischung aus Paul und mir, manchmal ist er beim Spielen so konzentriert und ernst wie sein Buchhalter-Papa, manchmal so vergnügt und aufgedreht wie seine kreative, lustige Mama.
Er plappert, er redet mit mir und Paul, die ihn stolz filmen. Pauls Stimme ist so warm, wie noch nie zuvor. Er ist so vernarrt in seinen Sohn... Ich bin es auch. Am Ende des Videos trete ich von hinter der Kamera weg, nehme Daniel hoch und lasse ihn seinem Papa zuwinken.
Ich strahle über das ganze Gesicht.
Ich weine, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben geweint habe. Erst einmal genügt ein Video. Aber im Laufe der Zeit werde ich sie mir wohl alle ansehen, ja, ich bin sicher da gibt es noch mehr, viel mehr.
Paul ist da. Paul ist da, wie all die Monate und Jahre zuvor. Wir umarmen uns.
Hass, Wut und Trauer werden nicht einfach verfliegen. Aber unsere Liebe ist noch da und sie wächst dagegen an, durch all den Schmerz hindurch.
Ohne die Geheimnisse könnten wir es schaffen.

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