Kapitel 4

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Jetzt lebe ich in Angst.
Die Kraft, mich dazu zu überreden, alles positiv zu sehen, ist mir verloren gegangen.
Paul und ich haben seit diesem Vorfall auf dem Sofa nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Nur das nötigste reden wir- und da ist eine Anspannung zwischen uns, die mir fast die Kehle zuschnürt, in jeder Sekunde.
Er hat da etwas gesagt, das er nicht mehr zurücknehmen kann... Er hat eine dunkle, boshafte Seite offenbart. Und die kann ich nicht einfach mit sanften, beruhigenden Worten kleinreden. Ich weiß das- und er weiß das auch.
Deswegen diese ungute Stimmung, die immer unerträglicher wird.
Eine Woche lang hat er mich nicht hinausgehen lassen. Eine Woche lang war ich zuhause eingesperrt- mit der Begründung, ich sollte mich noch schonen. Aber jetzt bezweifle ich wieder, dass es ihm wirklich darum geht. Ich habe die Zeit herbeigesehnt, in der er wieder zur Arbeit gehen muss- denn er kann nicht ewig den Hausmann spielen und seinem Job fern bleiben um mich gefangen zu halten.
Doch der Albtraum geht weiter. Er sagt, wir müssen es immer noch ruhig angehen lassen. Als sein Urlaub endet, legt er fest, dass er nach der Arbeit die Einkäufe und anstehenden Erledigungen machen wird- ich hingegen soll im Haus bleiben, soll sauber machen, soll meine Kochkünste verbessern, sagt er.
Das geht jetzt seit 3 Tagen so, dass er arbeitet und zugleich alle Dinge erledigt, die ausserhalb des Hauses zu tun sind. Ich weiß nicht, wann er vorhat, wieder 'Normalität' einkehren zu lassen. Wann er mich wieder rauslassen will.
Haben die Ärzte ihm denn wirklich geraten, mich wegzusperren wie ein Tier? Das kann ich mir nicht vorstellen...
Jeden Tag hoffe ich, dass sich dieser Wahnsinn aufklärt. Aber das passiert nicht. Es passiert einfach nicht.
Was ist aus mir geworden?
Bin ich jetzt wirklich eine Frau, die sich von ihrem Mann einsperren lässt? Lasse ich das wirklich geschehen?
Jeden Tag schleiche ich zur Tür. Prüfe, ob sie auch wirklich verschlossen ist. Aber Paul vergisst es nie. Er ist sehr... penibel.
Noch etwas ist mir aufgefallen. Es gibt kein Festnetztelefon in diesem Haus. Und keinen Computer. Zwei Tatsachen, die mir völlig unmöglich erscheinen. Zwei Dinge, die doch in jeden normalen Haushalt gehören.
Jeden Tag entdecke ich weitere Details, die dafür sprechen, dass ich in der Falle sitzen könnte... 'Könnte'...
Noch will ich kein Urteil fällen, denn irgendwie kenne ich Paul eben doch und kann mir nicht vorstellen, dass er ein völliger Psychopath ist...
Noch beobachte ich die Dinge, noch befinde ich mich in dem zeitlichen Rahmen, in dem ich mir zumindest einigermaßen einreden kann, dass Paul edle Motive verfolgt, dass er mich nur schonen und beschützen und mir Arbeit abnehmen will.
Noch.
Ich gebe ihm ein paar Tage. Dann werde ich handeln.
Ich... bin nicht so eine Frau. Er gibt mir jeden Tag die gleiche Antwort auf meine drängenden Fragen, er redet sich damit heraus, dass er auf ärztlichen Rat handeln würde, dass es mich zu sehr aufregen und aufwühlen würde, Verwandte, Freunde oder alte Kollegen zu sehen, dass es zu anstrengend für meinen belasteten Körper wäre, nach draußen zu gehen...
Auch er benutzt das Wörtchen 'noch'. Aber ich weiß einfach nicht, wann in seiner Vorstellung diese Schonungs-Phase enden soll. Er will es mir auch nicht sagen. Jedes Mal heißt es nur: 'Morgen sehen wir weiter.'
Und 'Morgen' ist die Tür dann wieder verschlossen.
Wie gesagt- ein paar Tage will ich noch warten. Aber ich bin nicht sein artiges Frauchen, sein weißgekleidetes Engelchen. Ich kann eines der Fenster im Erdgeschoss einschlagen und hinausklettern. Ich bin nicht wirklich gefangen. Ich kann jederzeit hier raus- ich muss nur ein Fenster zerstören und vielleicht ein paar Scherben in meinem Fleisch riskieren.
Als Paul an diesem Morgen geht, ist seine Verabschiedung seltsamerweise wärmer als sonst. Es gibt wieder einen Kuss für mich, zum ersten Mal seit langem. Nur auf die Wange aber... ernstlich warm und zart.
Aber kann ich das noch ernst nehmen? Jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich mich frage, ob nicht alles nur eine Illusion ist. War all die Wärme eine Täuschung, damit ich mich auch noch bereitwillig in dieser Falle festsetzen lasse?
Ist es etwa doch so, dass ich... mit jemandem verheiratet bin, den ich nicht kenne? Jemand, mit dem ich mal geschlafen habe, der eine Obsession für mich entwickelt und mich dann zu all dem gezwungen hat?
...Kam ihm mein Gedächtnisverlust vielleicht ganz gelegen?
Meine Gedanken spinnen finstere Paralleluniversen, denen ich mich nicht entziehen kann. Gott... was, wenn es keinen Autounfall gab? Was, wenn ich in meinem unglücklichen Hausfrauen-Leben gefangen war, mich mit Paul darüber gestritten habe- und er mich dann... verletzt hat...?
Es würde ja sogar Teile seines seltsamen Verhaltens erklären! Zum Beispiel, warum er mich nicht rauslässt, mir keine Gelegenheit bietet, mit meiner Aussenwelt zu kommunizieren. Will er etwa verhindern, dass ich herausfinde, wie unsere Beziehung wirklich war?
Unglücklich, gewaltgeprägt, gefängnisartig? Ist es das, was in dem verbotenen Raum eingeschlossen ist? Alle Möglichkeiten, Kontakt zu anderen aufzunehmen, alle Beweise, die mir zeigen könnten, was wirklich geschehen ist, sorgsam versperrt?
Nein, nein, nein- bitte nicht...! Bitte nicht so ein Szenario aus einem Horror-Thriller...! Ich kann mich doch unmöglich so sehr getäuscht haben, in allen Aspekten!
Bin ich... so naiv? Bin ich auf ein paar Küsse und Streicheleinheiten und Schmeicheleien hereingefallen, habe ich mich einlullen lassen? Bin ich an meinem Martyrium selbst schuld?
Doch als Paul weg ist, mache ich mich an meine tägliche Routine, meine Suche nach Informationen und ich komme auch wieder an all den Fotos vorbei. Nein... ich war glücklich, auf dem Hochzeitsfoto. Ich war glücklich mit Paul. Ich habe ihn sehr geliebt, das sehe ich. Ich kenne mich, mein Gesicht, diese Art von Lächeln.
Es steckt etwas anderes hinter allem.
Ja, ich spüre, dass da etwas ist, etwas wirklich schlimmes.
Aber... zugleich habe ich das Gefühl, dass es nicht Paul ist, den ich fürchten muss. Auch wenn das völlig verrückt klingt... Ich glaube, er will mich vor etwas bewahren...
Doch er hat das nicht zu entscheiden und all diese Geheimnisse halte ich nicht mehr aus. Ich will mit meinen Eltern reden, ich will wieder zurück in mein altes Leben, egal was darin auf mich lauert, ich will wissen, was in dem verbotenen Zimmer ist!
Ich verstehe das alles einfach nicht. Meine letzten Erinnerungen sind so voller Glück. Ich hatte ein tolles Leben, ich hatte Freunde, einen tollen Job, nette Kollegen, liebevolle Eltern, einen großartigen Freund, mit dem ich mir mehr als nur gelegentlichen Sex vorstellen konnte...
Was ist bloß passiert...? Jetzt sitze ich hier, eingesperrt, ich habe Angst und ich fühle mich so unfassbar einsam. Seit Tagen habe ich nur mit Paul gesprochen, nur seine Stimme gehört... Ich halte es nicht mehr aus...
Heute nimmt die Panik überhand, während meiner Suche. Aber es ist mir egal. Paul soll ruhig die Spuren meines wüsten Herumwühlens entdecken, er soll ruhig sehen, wie schrecklich es mir unter seiner bevormundenden Herrschaft geht.
Er soll endlich aufwachen und erkennen, dass es mich verflucht unglücklich macht- und dass ich einfach mein altes Leben wieder aufgreifen muss, statt von ihm hier vor all meinen Problemen weggesperrt zu werden.
Im Obergeschoss habe ich bereits unser ganzes Schlafzimmer auf den Kopf gestellt, auf der Suche nach- ich weiß nicht, irgendetwas, das mir Antworten gibt. Aber dort gab es nur, was es eben in Schlafzimmern so gibt. Schränke voller Klamotten, Bettwäsche, Schmuck, ein paar besondere Souvenirs, ein bisschen Spielzeug für Paul und mich...
Ob ich überhaupt auf irgendetwas stoßen werde? Ich meine-... Paul ist ein sehr, sehr genauer Mensch. Ich denke, alles, was ich nicht sehen soll, hat er längst im verbotenen Zimmer verstaut. Trotzdem, jeder Mensch macht mal Fehler und genau darauf muss ich setzen.
Aber das Schlafzimmer muss ich wohl endgültig verloren geben, dort ist einfach nichts.
Ich stapfe hinunter und mache in der Küche weiter. Bei den Kochutensilien und in den Besteckschubladen gibt es natürlich nichts interessantes zu entdecken- aber wir haben in der Küche auch Schränke, in denen Batterien, Glühbirnen und einige wenig benutzte Haushaltsgeräte lagern. Mir kommt da so ein Verdacht- eine aufkeimende Hoffnung...
Das Haus ist groß. Paul kann nicht an alles gedacht haben.
Ich erinnere mich an ein altes Besitzstück von mir und ich könnte mir vorstellen, dass es irgendwie auch den Weg hierher gefunden hat, in mein neues Zuhause.
Und vielleicht... hat Paul es vergessen.
Ich krame herum zwischen einem kaputten, in seine Einzelstücke zerbrechenden Mixer und einem circa 50-teiligen Küchenhelfer-Set, das so aussieht, als wäre es bei einem Teleshopping-Kanal erstanden worden. Und irgendwo da, zwischen all dem Müll finde ich sie- meine Fahrkarte hinaus in die Freiheit, mein Weg zur Wahrheit.
Ein uraltes Nokia-Handy aus der Steinzeit, klobig, potthässlich, aber möglicherweise noch immer voll funktionstätig. Das war für lange Zeit mein "Ersatz-Handy", denn während die zerbrechlichen Smartphones von heutzutage nur einmal ungünstig aus der Hand auf den Tisch fallen müssen, um kaputt zu gehen, kann man dieses Ding wahrscheinlich aus dem 30. Stock eines Hochhauses werfen, ohne Konsequenzen.
Jetzt ist es mein Lebensretter. Doch als ich auf den Tasten herumdrücke, passiert überhaupt nichts. Nach Jahren der Vernachlässigung im Krimskrams-Schrank wird der Akku vermutlich völlig leer sein. Hektisch stöbere ich weiter und befördere tatsächlich auch noch das Aufladekabel zutage. Gott sei Dank...
An der nächstgelegenen Steckdose schließe ich den unmodernen Klotz an und warte.
Ich setze mich an den Tisch und tippe mit den Fingern nervös auf der Tischplatte herum. Ich denke an Mama und Papa. Zuerst will ich mit ihnen sprechen.
Ich fürchte mich vor dem, was ich von ihnen erfahren werde. Da braut sich etwas über mir zusammen... Ich weiß, jetzt wird die Hölle losbrechen, irgendwas schlimmes wird passieren.
Ich kann mich nicht erinnern, wie lange dieses Nokia-Ding zum Aufladen braucht, aber ich habe keine Geduld mehr, ich reiße es vom Kabel und wähle die Nummer meiner Eltern, die Nummer von meinem ersten Zuhause. Die Zahlen flammen auf dem Display auf, das nicht einmal Farben darstellen kann. Es klingelt bei ihnen und mein Herz pocht schrill.
Hilfe... ich brauche Hilfe...
Es dauert so verflucht lange, fast kommen mir die Tränen, während die winzige Hoffnung in meinem Inneren langsam abstirbt. Aber dann nimmt meine Mutter ab und ich schnappe nach Luft vor Erleichterung.
"Carola Danker, hallo?"
"Mama!", rufe ich und höre, wie auch sie jetzt am anderen Ende der Leitung hörbar aufatmet.
"...Schatz! Wie... wie geht es dir?"
Ihre Stimme... Ihre urvertraute Stimme lässt fast alles schwallartig aus mir herausbrechen. Mein Unglück, meine Zweifel, all meine Ängste. Dieses entsetzliche Gefühl, mein kostbares, behütetes, wundervolles Leben einfach verloren zu haben- während ich 4 Monate lang schlief.
All das will ich ihr am liebsten gleichzeitig sagen, aber das geht nicht, meine Kehle schnürt sich zu und plötzlich weine ich einfach bloß.
"Marie, was ist los?", fragt sie und... ihre Stimme klingt seltsam fern. Da ist etwas zwischen uns- wie eine künstliche Distanz.
Sie ist doch meine Mutter... wenn ich so zu weinen beginne, so verzweifelt, so schluchzend, dann sollte sie sich eigentlich sofort ins Auto setzen und zu mir kommen, insbesondere nachdem ich solch traumatische Dinge durchgestanden habe, bei meinem verletzlichen Zustand...
Aber sie hält sich zurück. Meine Verzweiflung scheint sie nicht wirklich zu rühren.
Ich glaube jetzt drehe ich völlig durch. Bilde ich mir das ein? Hier stimmt doch etwas nicht, die ganze Welt ist verrückt geworden...!
"Etwas... Mit Paul stimmt etwas nicht...", flüstere ich schließlich, ich weiß gar nicht, wie ich all das in Worte fassen soll. Ich benutze die schockierendste Wahrheit, um sie aus ihrer Trance wachzurütteln, um ihr zu zeigen, dass ich sie wirklich, wirklich brauche! "Er sperrt mich im Haus ein... E-er will nicht, dass ich nach draußen gehe... Er sagt, es wäre nur zu meinem Besten, aber-... Ich habe Angst."
Stille.
"...Vielleicht ist das nicht ganz unbegründet.", sagt meine Mutter.
"Was?"
"Gib... gib der Sache doch noch ein wenig Zeit. Du solltest dich zuhause akklimatisieren."
Sie steht ernsthaft auf Pauls Seite!? Ich dachte, sie kann ihn nicht mal richtig leiden! Als sie und Papa mich im Krankenhaus besucht haben, da war jedes Mal Paul mit dabei und meine Eltern waren ganz blass und total angespannt.
Doch plötzlich kommt mir der schreckliche Verdacht, dass das doch nichts mit meinem Ehemann zu tun hat. ...Waren sie etwa so unruhig wegen mir? Können sie meinen Gedächtnisverlust etwa gar nicht ertragen, wollen sie mich gar nicht sehen? ...Oder... habe ich irgendetwas schlimmes getan?
Ich fühle mich langsam, als würden sie alle unter einer Decke stecken und sich gegen mich verschwören, um mich für irgendetwas zu bestrafen, das ich vergessen habe. Was... was habe ich denn bloß verbrochen, dass sie mich einsperren und mich wie ein unfähiges Kind behandeln, das nicht alleine gelassen werden darf? Ich wende mich hilfesuchend an meine Umwelt und alle werfen mir nur das Bild einer Verrückten zurück, von der man sich besser fernhalten sollte. Etwas, das weggesperrt bleiben sollte...
Meine Eltern können das doch unmöglich unterstützen, nein...!!!
"Mama...! Ich habe mich genug akklimatisiert, seit Tagen sitze ich hier fest...! Ich will wieder leben... Bitte, du musst vorbeikommen, ich brauche deine Hilfe!"
Ihr Widerwille ist nur allzu deutlich. Aber schließlich kann ich sie weichklopfen, denn immerhin bin ich ja ihre Tochter.
"In Ordnung, Marie. Ich werde vorbeikommen und mit Paul sprechen.", murmelt sie und ich höre, wie sie sich stöhnend von ihrer Couch erhebt.
Sie klingt völlig geschafft, als wäre sie 20 Jahre gealtert... Ich frage mich, wovon. Sie hat mich kaum besucht, sich kaum um mich gekümmert...
"Danke...", flüstere ich, aber sie hat bereits aufgelegt. Ich halte das Handy noch immer in meiner Hand und starre auf den Boden.
Alles beginnt sich zu drehen. Habe ich irgendetwas getan? Irgendein Verbrechen begangen?
Mir scheint es, als wäre ich nicht das Opfer dieser ganzen Geschichte. Ich war... irgendwie Schuld an irgendetwas...
War es der Unfall? Ich kann mich doch nicht daran erinnern- Paul hat gesagt, jemand ist in mich reingefahren, ich trage keine Schuld, er kümmert sich um alles...
Hat er gelogen um mich in Sicherheit zu wiegen? Was ist passiert? Was um alles in der Welt ist wirklich passiert?
Nicht einmal meine Mama will es mir sagen- sie lässt mich nur unterschwellig spüren, dass sie wütend auf mich ist. Wobei- wütend trifft es nicht, oder? Eher resigniert, todtraurig- ich habe meine Mutter am Telefon gerade überhaupt nicht wiedererkannt, auch bei ihren Besuchen im Krankenhaus war sie mir ganz fremd. Habe ich mich in den vergessenen Jahren so weit von ihr entfernt? Hat Paul mich etwa dazu getrieben? Hat er mich von ihr entzweit?
Es gibt so viele Möglichkeiten und sie alle machen mich nur wahnsinnig vor Hilflosigkeit. Wenigstens hat sich meine Mutter dazu erbarmt, mich aus meinem Gefängnis zu befreien, wie es scheint.
Als plötzlich die Tür aufschwingt, denke ich fast, sie ist es- weil ich nicht mehr weiß, wie lange ich jetzt perplex vor mich hingestarrt habe.
Aber mein Anruf ist erst ein paar Minuten her, so schnell kann sie nie und nimmer hergekommen sein-
Es ist Paul.
"W...was machst du denn hier?", frage ich verwirrt, als ich ihn sehe, wie er auf mich zugelaufen kommt. Noch wirkt er entspannt- aber dann sieht er das Handy in meiner Hand und seine Augen-...
Mir bleibt das Herz stehen.
Er gibt mir keine Antwort. Seine Hand schnellt vor, packt mein Handgelenk und reisst mir das Handy aus den Fingern. "Was hast du getan!?", zetert er und ich ducke mich, eine mechanische Angstreaktion. Wie ein Tier fühle ich mich. Meine Instinkte rasen, mein Gehirn pocht.
Was soll ich jetzt tun, was soll ich jetzt tun...!?
"I-ich... ich wollte nur mit meiner Mutter sprechen...", quetsche ich kleinlaut hervor. Wie... kann er mich deswegen nur so anbrüllen?
"Du hast WAS!? Worüber habt ihr geredet, WORÜBER!?" Er packt meinen anderen Arm, seine Finger bohren sich tief in mein Fleisch.
Auf seine Frage kann ich nicht antworten. Ein Wimmern dringt aus meiner Kehle. "...D-du tust mir weh...", flüstere ich und er kommt wieder zur Vernunft. Zumindest... ein bisschen.
Er lässt mich los, seine Gesichtszüge entgleisen. Er kann selbst nicht fassen, was er da getan hat, wie sehr er über die Stränge geschlagen ist.
"Es tut mir Leid..." Er weicht einen Schritt zurück, starrt mich an. Das Handy hat er jetzt in seinem Besitz- und er lässt es unauffällig in seiner Hosentasche verschwinden, eine Geste, die mir zeigt, dass ich es nie wieder sehen werde. Vielleicht wird es im verbotenen Raum verschwinden- zusammen mit all den anderen Dingen.
Ich sehe an Pauls Augen, dass seine Gedanken sich überschlagen. "Es hat keinen Sinn...!", zischt er, mehr zu sich selbst, als zu mir. "Ich-... ich werde mir noch länger freinehmen müssen. Ich werde rund um die Uhr hier sein und mich um alles kümmern. Du willst es ja doch nicht begreifen...!"
"Warum tust du das alles...!?", bricht es aus mir heraus. "Warum darf ich mit niemandem reden, niemanden sehen-... warum hast du sogar meine Eltern dazu gebracht, sich von mir abzuwenden!? Was soll das alles?"
Er starrt mich an. "...Es ist besser so.", antwortet er vage und tatsächlich sehe ich ihm an, dass er keinen anderen Ausweg mehr weiß.
"Warum?! I-ist es meine Schuld? Habe ich irgendetwas getan? Soll das hier... soll dieses Gefängnis meine Strafe sein?"
Es tut Paul weh, dass ich ihn damit konfrontiere. Er ist ein Mann, der es schlecht ertragen kann, wenn er sich anhören muss, dass seine Frau unglücklich ist, dass er sie nicht zufriedenstellen kann, das erkenne ich leicht. Aber er muss sich meinen Worten stellen, denn es ist wahr...! Er sperrt mich ein, er macht mich unglücklich!
"...Du musst mir... einfach vertrauen...", sagt er erschöpft. "Ich will dich nur... beschützen."
"Aber wovor denn!?" Ich halte diese Geheimnistuerei nicht mehr aus. Ich weiß längst, dass da irgendetwas unter der Oberfläche lauert... aber er will es mir einfach nicht sagen. Er kann es mir nicht sagen, er bringt es nicht über die Lippen.
Er sieht mich an. Er mustert mich. Versucht, seine Gefühle zu ordnen. Ich habe festgestellt, dass mein Einblick zweierlei Dinge in ihm auslöst. Liebe, Begehren, Wärme... Aber auch Hass, Wut, Kälte...
Und das verstehe ich einfach nicht. Ist es, weil er ein Psychopath ist, weil seine Gefühle zerrissen sind? Oder habe... ich selbst etwas derartig schreckliches getan, dass es ihn entzwei gerissen hat?
Bei diesen Gedanken habe ich nicht nur Angst vor ihm, sondern auch Angst vor mir selbst.
Letztendlich bekomme ich überhaupt keine Antwort mehr von ihm. Ich setze mich ins Wohnzimmer, streichle meinen schmerzenden Oberarm und höre ihn in der Küche telefonieren. Offenbar wollte er heute nur in der Mittagspause nach Hause kommen, um mir feines Gebäck von meinem Lieblingskonditor mitzubringen, damit ich es mir in meinem Gefängnis mit einem Tee und Süßkram gemütlich machen kann. Und gerade heute hat er mich dadurch im ungünstigsten Moment ertappt. Ich höre jetzt am Telefon, wie er meine weitere Überwachung regelt, er streitet mit seinem Chef über weitere Urlaubstage und Home-Office-Zeiten. Damit er immer, immer, immer hier sein kann. Damit er mich völlig isolieren kann.
Ich denke an gestern Nacht. An seine grausamen Worte. 'Du schuldest mir das.'
Ich schulde ihm Sex? Ich schulde ihm, dass er in mir kommen darf? Ich schulde ihm, den Brutkasten für ihn zu spielen? Ich schulde ihm meine Freiheit? Ich schulde ihm mein Leben?
Draußen höre ich ein Auto ungewöhnlich langsam an unsere Auffahrt heranrollen und ich springe auf. Mama...! Ist sie gekommen?
Als es klingelt, bin ich schon an der Tür- aber ich kann wieder nicht aufmachen, selbst wenn Paul da ist, verschließt er sie von innen.
Paul kommt zu mir. "Du hast deine Mutter herbestellt...?", murrt er. "...Ich werde das klären."
"Nein...! Du wirst sie nur wegschicken-...! Ich will mit ihr reden!" Während ich die Worte ausspreche, fühle ich schon, wie ich gleich von ihm geschlagen oder weggezerrt werde, damit ich meinen Gefangenenstatus ja nicht in alle Welt hinausposaunen kann, aber-... es kommt ganz anders. Paul verzieht keine Miene und öffnet einfach die Tür, draußen steht meine Mutter, die Hände um ihre Handtasche verkrampft, die Schultern angespannt.
Ihre Augen sind seltsam gerötet.
"Mama... Bitte-...", presse ich nur hervor und fange fast wieder an zu heulen.
Meine Mutter kann mich gar nicht richtig ansehen. Ihre Lippen sind zu einem Strich verzogen. "Ich werde mit Paul sprechen.", murmelt sie und nickt Paul zu.
"Du wartest im Haus.", befiehlt Paul und ehe ich reagieren kann, ist mein Zugang zur Freiheit wieder verschlossen. Was...?
Für einige Sekunden stehe ich einfach perplex vor der Tür und begreife gar nichts mehr.
Dann renne ich ins Wohnzimmer. Wenn man sich am Wohnzimmerfenster genügend verbiegt, kann man sehen, was in der Auffahrt vor sich geht. Hoffentlich stehen die beiden nicht zu nah am Haus... Aber nein, sie stehen an Pauls Auto und ich kann sie reden sehen. Ich höre nicht, was sie sagen, nicht einmal, als ich ganz leise eines der Fenster kippe. Aber... das was ich sehe, reicht mir.
Sie reden angeregt und vertraut miteinander. Schwiegersohn und Schwiegermutter.
Meine Gedanken rasen und springen. Ich habe keine Ahnung, welche Verbindung zwischen ihnen herrscht. Damals, als ich nur meine Sextreffen mit Paul hatte, habe ich meinen Eltern natürlich nichts von ihm erzählt. Aber irgendwann wird es wohl dazu gekommen sein, dass ich ihm meinen Eltern vorgestellt habe, sie waren bei unserer Hochzeit, bei Familienfeiern- ich habe sie auf einigen Fotos bei uns im Haus entdeckt.
Meine Mutter sieht ihn wirklich an, als würde sie ihn lieben wie einen eigenen Sohn. Sie sieht ihn an, wie sie sonst immer meinen Bruder ansieht.
Jetzt weint sie. Paul nimmt sie in den Arm. Das ist Familie. Nur ich-... ich gehöre nicht mehr dazu? Ich, die Ehefrau, ich, die Tochter?
Ich bleibe eingeschlossen im Haus? Wieder fühle ich mich bestraft. Und ich weiß immer noch nicht, wofür.
Und dann... dann muss ich hilflos mitansehen, wie meine Mutter sich von Paul verabschiedet, wieder geht, in ihr Auto steigt und wegfährt. Sie fährt einfach wieder weg, statt mich zu befreien. Es scheint, als hätte sie sich entschieden, dass ich das verdiene.
Oder Paul hat sie mit irgendeinem charmanten Trick eingelullt. Doch er steht jetzt allein in der Auffahrt und ich kann ihn noch immer beobachten. Und er wirkt nicht wie ein abgebrühter Gefängniswärter, dem es Befriedigung verschafft, seine Frau einzusperren und ganz für sich allein zu haben.
Er schaut dem Auto meiner Mutter nach, es fröstelt ihn. Dann hält er sich eine Hand vor die Augen und... er weint. Die Zuckungen seiner Schultern. Der gramgekrümmte Körper. Paul weint allein da draußen, statt zu mir zu kommen und mir endlich zu sagen, was los ist, damit ich ihn in den Arm nehmen kann und damit das alles endlich endet.

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