Fremde Vertrautheit

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Callan:


Ich zerreiße in diesem Moment. Weil ich weiß, warum sie weint. Weil ich weiß, warum sie überhaupt nur daran gedacht hat, zu Alkohol zu greifen. Und der Grund lässt sich prezise in einem einzigen Wort zusammenfassen. Ich. Ich bin Schuld. Ich war fast mein ganzes Leben lang kalt zu ihr, was, verdammt nochmal, habe ich erwartet? Aber was für eine Wahl hatte ich denn? Ich wollte ein gutes Leben für sie. Einzig und allein das. Stattdessen habe ich sie einfach kaputt gemacht.

Sie ist so wunderschön im Mondlicht. Sogar ihre einzelne Träne ist der Inbegriff von Schönheit, als sie ihr Gesicht herunter und dann nach hinten in ihren Haaransatz läuft. Ich muss Row an mich ziehen. Den Impuls kann ich nicht mehr unterdrücken. Ich weiß, dass ich halb nackt bin und dass sie nur eine weite Jogginghose trägt und ein dünnes Spagettiträger Top, das mehr von ihrer BH-losen Oberweite zeigt, als es sollte, aber ich meine das hier nicht zweideutig.

Sie ist offensichtlich etwas überrascht, als ich einfach nach ihr greife und zu mir auf meine Seite ziehe. Aber ich fühle mich nicht schuldig, wenn ich ihr nah bin. Ich fühle mich dann wenigstens für eine Weile, als könnte ich Dinge wiedergutmachen. Und das entweder, weil Rowan mich betäubt und in eine wunderschöne Traumwelt versetzt, in der Wiedergutmachung und ein Happy End existiert, oder weil ich ihr mit meinen echten Gefühlen tatsächlich etwas Gutes tue, was mein rationaler Verstand bezweifelt.
Aber verdammt, ich will diesen Traum mit ihr leben. Nur einmal, eine Nacht, auch wenn nur der Wille restlos selbstsüchtig ist.

Sie ist so richtig in meinen Armen. Alles in mir sagt, dass sie hineingehört. Zu mir. Jedes Gefühl in mir sagt mir das.
Rowan lässt mich widerstandslos gewähren, und als sie an mir liegt, lehnt sie ihre Stirn vorsichtig gegen meine freie Brust. Das hier ist völlig neues Terrain, so ungewohnt, und doch so vertraut.
»Nicht weinen.«
Aber meine Worte bewirken nur, dass sie erst richtig anfängt. Ihre zaghaften Hände schließen sich um die Mitte meines Oberkörpers und ziehen sie langsam noch dichter an mich. Die einzelnen Decken, in die beide unserer unteren Körperhälften gehüllt sind, passen in diesem Moment sehr gut. Aber ich begehre sie nicht nur auf irgendeine krankhafte Weise. Ich liebe dieses Mädchen. Ich liebe sie. Und ich könnte jeden sexuellen Drang zurückhalten, damit sie einfach ungestört, ruhig und friedlich in meinen Armen liegen kann. Für immer. Für verdammt nochmal immer.

Ihre Berührungen bringen mich zum angenehmen Erschaudern, aber ich versuche so gut es geht, es zurückzuhalten. Ich fühle ihre Fingerspitzen an meinem Rücken so deutlich als wäre physisch nichts anderes mehr da, was ich spüren könnte.
Ich möchte Rowan gern sagen, dass es nichts gibt, worüber sie weinen muss, aber ich weiß es nicht. Baby, Mann, ich hab keine verdammte Ahnung.
»Schlaf, Row«, flüstere ich deshalb. »Wenn du schläfst, gehören deine Dämonen für eine Weile jemand anderem.« Und als ich ein paar Minuten darauf tatsächlich ganz leises, gleichmäßiges Schnarchen höre, füge ich kaum hörbar hinzu: »Aber denk nie, dass ich dich nicht liebe.«

Sobald ich aus dem traumhaften Schlaf schrecke, den ich so noch nie so gut hatte, wird alles brutal. Es ist wie ein Schlag mitten in mein Gesicht.
Die Dinge passieren ganz schnell:
Alles an mir beginnt, zu zittern, sobald ich auf Rowans friedlich-schlafendes Gesicht blicke, dessen Züge gar nicht entspannter sein könnten.
Meine Gedanken bringen mich um. Ich habe in diesem Moment keinen Halt mehr. Ich weiß nicht, was ich tun soll, alles stürzt erbarmungslos auf mich ein.
Ich fühle mich, als würde ich zerreißen. Als müsste ich krampfhaft irgendeine Entscheidung treffen, die mich umbringen würde.

Mein Puls rast. Mein Herzschlag ist so schnell, dass es mir Angst macht. Aber ich darf Rowan nicht wecken. Sie würde mich berühren, mich in diese wundervolle, traumhafte Trance hüllen, und ich würde... ich könnte nichts mehr dagegen tun.
Also verlasse ich das im Dunkeln liegende Zimmer. Ich verlasse sie, weil allein ihr Anblick meine Panik schlagartig zum Runterfahren bringt.
Fuck, ich habe doch alles getan, um sie zu beschützen. Alles. Warum zerstört sie es? Warum zerstört sie es so gut? Warum fühlt es sich an, als würde sie mich befreien?


Ich fühle bis heute, dass sie damals tatsächlich genau das getan hat.
Mich befreit.

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