1. Kapitel

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Es stand wieder einmal ein Magierfest in Waldstadt vor der Tür. Bansein, der Obermagier der Wooden, saß grübelnd in seinem Haus unter der großen Milde am Waldrand. Wie so oft, wenn er eine Entscheidung zu treffen hatte, sah er auch heute aus dem Fenster, als könne er dort eine Lösung finden. Die Bäume, die den lichten Rand des Waldes begrenzten, reckten ihre Äste weit über die freie Fläche vor Banseins Fenster hinaus und spendeten Schatten. Die Sonnenstrahlen blinzelten durch die Blätter und bildeten auf dem mit Klee und Gras bewachsenen Boden bizarre Muster, die sich mit dem Wind immer wieder änderten. Die knorrige Ache mitten auf der Lichtung wirkte seltsam unbeweglich.

Am Rand der Lichtung begann das eigentliche Gebiet von Waldstadt. Kleine Häuser begrenzten es. Zum Inneren der Niederlassung hin wurden die Bauten immer größer. Die meisten Behausungen waren jeweils um oder an einen Baum gebaut, mit vielen kleinen Fenstern und meist mit einem Dach aus Blattwerk.

Zwischen Geschwatze und Gekicher, das herüber schallte, mischte sich lustiges Kinderlachen und von Zeit zu Zeit das seltsame, etwas knarrende Bellen der Waldhunde.

In der Ferne war das Haus des Woodenältesten zu sehen, das als einziges mit Holz gedeckt war. Es war nicht nur größer als die anderen Häuser, weil hier Versammlungen abgehalten wurden. Es sah auch sehr besonders aus. Das kam daher, dass das Haus an den jeweils nächsten Amtsinhaber weitergegeben wurde, wenn es dafür Zeit war. Die Ältesten und ihre Familien lebten während ihrer gesamten Amtszeit hier. Es war den Bewohnern möglich, Veränderungen an dem Domizil vorzunehmen, solange es den Wohnbereich betraf und die bebaute Grundfläche des Hauses nicht veränderte, weil rund um das Gebäude andere Behausungen standen, die nicht in Mitleidenschaft gezogen werden durften. Da aber jeder Älteste seine eigenen Ideen für das Haus hatte, gab es im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Veränderungen, die sich in seinem Äußeren immer dann niederschlugen, wenn angebaut, abgerissen, aufgebaut worden war. Die meisten hatten vor allem in die Höhe gebaut, aber auch verschiedene Balkone und Erker waren zu sehen. Und so überragte das Haus nun alle anderen und bildete eine Art seltsamen Mittelpunkt, der sich über den Dächern der anderen Häuser fast ein wenig spinnennetzartig oder vielleicht eher wie eine Baumkrone ausbreitete.

Bansein wandte seine Augen von dem sonderbaren Bau in der Ferne ab und hielt seine große gerade Nase in den lauen Wind, der den milden, aromatischen Duft der Blüten ins Zimmer trug. An dem schütteren grauen Haar und den Falten um die verschmitzt blickenden Augen konnte man sehen, dass der Magier den Zenit des Lebens längst überschritten hatte. Und doch wirkte er kraftvoll und jugendlich. Um seinen schmalen Mund spielte fast immer ein kaum merkliches Lächeln, so als machte er sich über die vielen kleinen Dinge des Lebens lustig. Und in der Tat nahm er die meisten Dinge, die ihn umgaben, mit Humor. Besonders seine Kleidung. Selten wählte er diese mit Bedacht. Um Farben und Formen so zu kombinieren, wie er es tat, bedurfte es schon einer gehörigen Portion Selbstbewusstseins und Gleichgültigkeit gegenüber den mehr oder weniger wohlmeinenden Ratschlägen der Mitmenschen, die häufig unweigerlich und ungefragt erteilt wurden. Vor allem Koman, einer der anderen Magier, wurde hierin nicht müde. Heute zum Beispiel trug Bansein grellgrüne Beinkleider, dazu alte rote Schuhe und ein leuchtend orange-blau gestreiftes Hemd. Sein alter brauner Umhang lag unordentlich über dem Sessel. Auf dem Kopf trug er fast ständig eine lange Bommelmütze aus vielfarbigem Filz, um seinen immer kahler werdenden Kopf zu verbergen – eine der wenigen Eitelkeiten, die der alte Magier sich gestattete. Aus irgendeinem Grund war er der Meinung, eine Glatze sei eines Magiers unwürdig.

Bansein schaute noch immer nachdenklich aus dem Fenster. Er liebte dieses Haus, hierher zog er sich zurück, wenn er beschäftigt war. Der Duft der Milde beruhigte und beflügelte ihn. Meist fielen ihm hier die besten Lösungen für die schwierigsten Probleme ein.

Diesmal musste er die drei Wooden-Magier auswählen, die am Wettkampf teilnehmen durften.

Nicht weit von seinem eigenen Haus, drüben an den großen Wurzeln der Aspanie sah Bansein in einer Gruppe junger Winze Horps stehen. Nicht sehr groß, mit feinen Gliedmaßen, sah man ihm auch von Weitem an, dass er gelenkig und wendig war. Sein glattes, schwarzes, kurz geschnittenes Haar unterschied sich von den meist langen Haaren der anderen jungen Männer. Es stand in besonders krassem Gegensatz zu den fast hüftlangen, roten Locken seines besten Freundes Wadensein, der ihm gegenüberstand. Das breite Lachen auf dessen Gesicht gab ihm etwas Gutmütiges, das man bei der kräftigen Statur Wadenseins nicht auf den ersten Blick erwartete. Und doch war dies eine seiner wesentlichen Eigenschaften. Beide jungen Männer kannte Bansein besonders gut, obwohl sie nicht aus Waldstadt stammten. Er hatte einen Teil ihrer Ausbildung bestritten. Alle Jungmagier mussten einige Zeit auf Wanderschaft, um sich zu vervollkommnen, ehe sie die Magierprüfung ablegen durften. Mit sehr wenigen Ausnahmen war außerdem die erfolgreiche Teilnahme am Magierwettstreit Voraussetzung dafür. Nahm ein vollständig ausgebildeter Jungmagier nicht am Wettstreit teil, erhielt er irgendwann den Titel eines Hilfsmagiers. Dies geschah aber nicht allzu häufig, da die Begabung zur Magie nur selten zu finden war und ein Jungmagier meist seine Chance bekam, an einem der Wettstreite teilzunehmen. Damit kehrten Banseins Gedanken wieder zu seiner eigentlichen Aufgabe zurück.

Der Drachenschrein - LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt