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Alles bewegte sich schneller. Nur die Wolken zogen wie immer langsam am Zugfenster vorbei. Schwere, graue Wolken und der Regen prasselte gegen die Fenster. Das war also das erste, was ich von meinem neuen Zuhause sah.
Mit einem Seufzen zog ich meine Kopfhörer raus und sah zu meiner Schwester neben mir. Sie schlief friedlich, doch es sah etwas unbequem aus wie sie den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, die eine Hand darunter liegend und die andere neben Tisch und Bank nach unten hängend. Und dazu kniete sie noch. Manchmal fragte ich mich warum sie nie Schmerzen hat wenn sie so daliegt.
Kopfschüttelnd packte ich die Sachen wieder ein, die mittlerweile auf dem ganzen Tisch verteilt waren; Skizzenblock und Stifte, Brotdosen, Wasserflaschen und die Decke, die ich vor einer halben Stunde über meine kleine Schwester gelegt hatte. "Lyn wir sind gleich da." In diesem Moment kam auch schon die Durchsage. Von meiner Schwester bekam ich nur ein Grummeln zu hören. "Julyn. Du weißt, dass ich kein Problem damit habe das Fenster zu öffnen und den Regen rein zu lassen."
Als sie das hörte schnellte ihr Kopf hoch und sie sah mich mit einem wütenden Blick an.
    "Bloß nicht!" Ich musste durch ihren Anblick nur lachen. Ihre zerzausten zwei geflochtenen Zöpfe waren durch den Schwung mit nach oben geflogen und der eine hatte sie im Gesicht getroffen, ihr Shirt war unordentlich und zerknittert und sie hatte noch etwas Schokoladencreme an der Lippe.
    "So wie du aussiehst wäre das eigentlich keine schlechte Idee wenn ich so darüber nachdenke."
    "Das wagst du dich doch gar nicht!" Ich glaube das ging tatsächlich noch so lange weiter, bis die Durchsage für den nächsten Halt im Zug ertönte und Lyn schnell auf die Toilette rannte um sich tatsächlich nochmal frisch zu machen. Zu meinem Bedauern ohne Regen. Währenddessen nahm ich meinen Rucksack und den Koffer, und stellte die Sachen auf den Gang, was ein paar andere Fahrgäste nur skeptisch beäugten. Korea ist so kompliziert... wenn sogar das unhöflich ist weiß ich auch nicht. Erneut musste ich seufzen und stellte mich mit den Sachen an die Tür des Zuges, wo sich meine kleine Schwester nur kurz später auch zu mir gesellte, jetzt wieder perfekt gestylt. Wie sie das nur immer so schnell schaffte... Die Türen öffneten sich und wir stiegen aus, stellten uns erstmal an eine Stelle, an der wir die anderen Leute, die aus dem Zug ausstiegen, nicht behinderten und wo wir uns nach unserer Großmutter umsehen konnten. "Ich sehe sie nicht, Minnie..."
    "Vielleicht verspätet sie sich nur. Lass uns an den Parkplatz da stellen, da ist auch eine Bank." Damit konnte sich die Beautyqueen abfinden und als wir dort waren, ließ sie sich sofort auf die Bank fallen.
    "Seid ihr Minseok und Julyn?" Verwirrt wand ich mich dem jungen Mann zu, der jetzt gleich neben mir stand. Er war klein, nur ein wenig größer als meine Schwester, aber definitiv älter als sie. Seine Augen waren so dunkel, dass sie schwarz wirkten und seine Haare ebenso. Selbst seine Kleidung war vollkommen schwarz. Man konnte ihm sofort anmerken, dass er schlechte Laune hatte, die Hände steckten in der Hosentasche und er hatte die Kapuze auf, eine Kippe steckte zwischen seinen Lippen und er sah uns nur abschätzend an. Ich nickte, um ihm endlich auf seine Frage zu antworten, Lyn hatte anscheinend verlernt wie sprechen geht, was bei ihr an ein Wunder grenzt. 
    "Und du bist?"
    "Sehun. Ich soll euch abholen. Packt eure Sachen einfach in den Wagen, ich brauch noch 'ne Minute." Ich nickte nur wieder und verstaute unsere Koffer und Rucksäcke in dem Kleinwagen, der ebenfalls schwarz war. Anscheinend seine Lieblingsfarbe. Lyn setzte sich schon, während ich mich nochmal nach unserem Fahrer umsah. Er stand neben dem Bahnsteig und rauchte. 
    "Darf ich auch eine? Ich konnte keine mitnehmen." Mehr widerwillig als freundlich gab er mir eine. "Warum hat unsere Großmutter eigentlich dich gebeten uns abzuholen?"
    "Frag sie das doch selbst. Siehst sie ja gleich." Freundlich. Schon wieder musste ich seufzen. Das fängt ja gut an. Nach kurzer Zeit, ich hatte einfach nicht mehr versucht mit ihm zu sprechen, stiegen wir beide ins Auto und weiter ging die Fahrt. Lyn löcherte ihn förmlich mit ihren Fragen, sie hatte anscheinend ihren Mund wieder gefunden, und ließ sich von seinen schroffen Antworten nicht aufhalten. Ich musste schmunzeln. Mit ihrer leicht nervenden Art konnte sie wirklich Leute vergraulen. Irgendwann hatte sie es aber geschafft ihn so sehr zu nerven, dass er uns einfach vor dem Haus unserer Großmutter raus warf. Dennoch konnte ich nicht anders als über die Situation breit grinsen zu müssen, vor allem weil die kleine Nervensäge schmollend dem Wagen hinterher sah.
    "Tja Süße auch du wirst mal abgelehnt." Schelmisch grinsend wuschelte ich dem schmollenden Etwas durchs Haar, weshalb sie aufquiekte und ging mit meinen Sachen zur Tür. Das Haus sah klein und einfach aus. Es war blau von außen und besaß keinen Vorgarten. Das Dach war geschwungen, wie es in diesen typischen Kung-Fu-Filmen vorkommt.
Die Türklingel konnte man durchs ganze Haus hören, das merkte ich auch hier draußen und nach ein paar wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür und wir sahen der recht kleinen, etwas fülligeren Person mit den lieben, faltigen Augen und einem glücklichen Lächeln entgegen. "Hallo Großmutter." Ich lächelte sanft. Ich hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen, seit ich zwei war um genau zu sein, weshalb ich sie nur von Fotos erkannte.
    "Minseok, Julyn! Ihr seid aber groß geworden!" Sie lächelte uns an und machte uns Platz. "Kommt doch erstmal rein und bringt die Sachen nach oben, danach können wir uns richtig begrüßen. Ich zeige euch die Zimmer." Und damit lief sie nach oben. Schmunzelnd folgten wir ihr. Es war seltsam dieser uns eigentlich fremden Frau zu folgen. Aber sie war die Mutter unseres Vaters und unser letztes Familienmitglied. Nach den hölzernen Treppen standen wir vor zwei Zimmertüren. Es waren Schiebetüren aus Holz. Also schlecht sah es bis jetzt ja schon mal nicht aus. "Also das rechte Zimmer ist für dich, Julyn und das linke gehört dir." Erneut lächelte sie. "Ich gehe runter das Essen machen, richtet euch lieber erstmal ein. Ihr seid bestimmt erschöpft von der langen Reise." Und noch während sie das sagte, verschwand sie auch schon wieder. 
Nach einem kurzen Zögern betraten wir also beide unsere Zimmer. Die Wände waren schlicht weiß, so wie alle Wände innerhalb des Hauses und ich hatte zwei Fenster. Der Boden war aus diesen gebundenen Bambusstäben. Außer einem Kleiderschrank, einem Regal und einem Schreibtisch gab es eigentlich nur noch das sehr flache, aber große Bett.  Mit einem seufzen ließ ich mich auf das Bett sinken und schloss die Augen.

Mittlerweile war es sehr spät. Ich saß auf meinem Bett und schaute aus dem Fenster. Ich sah zum Mond auf. Der war irgendwie noch das Einzige, das Gleich war... Seit unsere Eltern vor ein paar Wochen gestorben waren war alles anders. Die Leute behandelten uns anders. Zuhause war eine bedrückende Stimmung und auch wenn wir uns Mühe gaben normal weiter zu leben ging das nicht. Lyn hatte vor ein paar Tagen gerade ihren Abschluss und ich studierte. Wir konnten nicht für uns selbst sorgen. Schweren Herzens mussten wir alles verkaufen was wir nicht unbedingt brauchten, um die Reisekosten bis hier her, von New York City nach Südkorea bezahlen zu können. Wir hatten unsere Großmutter nie wirklich kennen gelernt. Aber als sie vom plötzlichen Tod ihres Sohnes erfahren hatte, hat sie sich sofort bei uns gemeldet und gesagt, dass wir doch zu ihr könnten. Natürlich war es schwer alles zurückzulassen, was wir jemals gekannt hatten. Wir waren zwar in Südkorea geboren, aber meine Schwester und ich hatten nicht wirklich viel davon mitbekommen, denn wir waren nach New York gezogen, als sie noch ein Baby und ich gerade mal zweieinhalb Jahre alt war. 
Ein Klopfen an der Tür holte mich zurück in die Realität und aus den Erinnerungen raus. Ich stand auf, um die Tür aufzuschieben und sah meiner verheulten kleinen Schwester ins Gesicht. 
    "K-kann ich heute bei dir schlafen, Minnie?" Sie hatte den Kopf gesenkt und flüsterte, um unsere Großmutter nicht zu wecken.
    "Natürlich, komm rein." Sanft nahm ich sie bei der Hand und führte sie zu meinem Bett, in welches ich mich mit ihr legte. Sie sah zur Fensterbank und lächelte leicht als sie das Foto sah, dass dort stand. Es zeigte uns zwei mit unseren Eltern, als wir noch etwas jünger waren. An dem Tag hatten wir einen Freizeitpark besucht und hatten beide große Zuckerwatten in der Hand. Lyn hatte noch einen Schnuller, so klein war sie auf dem Bild. Auch ich musste lächeln.
    "Ich vermisse sie so sehr..."
    "Ich auch Lyn..."
    "Ich will zurück nach Hause. Zu Mom und Dad..."
    "Ich wünschte wir könnten." Wir redeten noch eine ganze Weile, über Erinnerungen mit unseren Eltern, über unsere Großmutter und wie es hier wohl werden würde, ehe sie irgendwann einschlief. Ich konnte noch lange nicht schlafen. Die Zeitverschiebung machte sich stark bemerkbar. Eine weitere Sache, um die ich meine kleine Schwester beneidete: sie konnte einfach immer schlafen. Egal welche Uhrzeit und egal wo wir waren. Ich blieb also noch eine ganze Weile wach. Es war schon fast wieder Morgen, als ich endlich schlafen konnte. Und selbst im Schlaf konnte ich mich nicht so wirklich erholen, denn ich träumte, wie so oft in letzter Zeit, von dem Unfall, bei dem unsere Eltern ihr Leben verloren hatten.

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