Wir waren jetzt seit fünf Tagen hier, und Sanemi hatte mir bislang nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. So wie ich ihn kenne, macht er sich nur Sorgen um mich, aber ich fühle mich wie ein Vogel in einem Käfig. Es ist schwierig, in dieser neuen Umgebung anzukommen, wenn ich nichts anderes sehe als die vier Wände unseres Hauses. Jeden Tag nur Hausarbeiten zu erledigen und gelegentlich für die Schüler meines Bruders zu kochen, reicht mir einfach nicht. Und selbst dann durfte ich das Essen nicht ins Dojo bringen, sondern musste es den Krähen überlassen, die es weitertrugen.
Ich hatte gehofft, mich in dieser neuen Umgebung ein wenig freier bewegen zu können, aber Sanemi scheint mich mehr denn je beschützen zu wollen.
Heute jedoch bot sich mir eine Gelegenheit. Sanemi war zu einem Treffen der Säulen aufgebrochen, und ich beschloss, die Zeit zu nutzen, um mich endlich im Dorf umzusehen.
Beim Treffen der Säulen
„Da wir nun die aktuellen Stände besprochen haben, möchte ich noch eine kleine Ankündigung machen", begann Oyakata-sama mit seiner ruhigen, wohlwollenden Stimme. „Wir haben ein neues Mitglied in unserem Dorf. Sanemi, möchtest du vielleicht die Person vorstellen?"
Alle Augen richteten sich auf Sanemi. Dieser zog missmutig die Stirn in Falten und grummelte: „Meine kleine Schwester ist bei mir eingezogen. Sie hat nichts mit dem Corps zu tun. Das reicht an Informationen."
Die Anwesenden tauschten erstaunte Blicke aus. Das war untypisch für Sanemi, der immer darauf bedacht war, sein Privatleben zu schützen.
„Oh, deine Schwester also?" neckte Obanai mit einem sarkastischen Lächeln. „Wahrscheinlich sieht sie aus wie du – nur mit langen Haaren. Eine weibliche Version von dir, sozusagen."
Sanemi sprang wütend auf. „Was hast du gesagt? Soll ich dir die Fresse polieren, Obanai?" Seine Stimme bebte vor Zorn.
Um die aufkommende Spannung zu entschärfen, hob Oyakata-sama eine Hand. „Beruhige dich, Sanemi. Das Treffen ist hiermit beendet. Jeder möge seiner Wege gehen."
Sanemi ließ sich murrend wieder auf seinen Platz fallen, aber die neugierigen Blicke der anderen begleiteten ihn, als die Versammlung aufgelöst wurde.
Zurück bei Lita
Mit einer Kapuze tief ins Gesicht gezogen wagte ich mich endlich aus dem Haus. Die Sonne schien hell, und ich fühlte mich, als hätte ich seit Ewigkeiten keinen frischen Wind mehr gespürt. Das Dorf war viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Statt eines einfachen, kleinen Ortes mit nur wenigen Häusern gab es hier ein lebendiges Treiben. Die Straßen waren gesäumt von charmanten Gebäuden, und Kinder liefen lachend zwischen den Erwachsenen umher.
Nach einer Weile entdeckte ich einen wunderschönen Garten. Es war, als hätte jemand ein kleines Paradies mitten im Dorf geschaffen. Die Bäume standen in perfekter Harmonie mit den Blumenbeeten, und ein kleiner Teich glitzerte im Sonnenlicht.
Ich blieb stehen und dachte daran, wie trostlos der Garten meines Bruders war. Eine kahle Wiese ohne jegliche Farben. Vielleicht sollte ich mich darum kümmern, wenn ich schon die ganze Zeit zu Hause bin, überlegte ich.
Ohne es zu merken, führte mich mein Weg zum Fuß eines Berges. Ein schmaler Pfad schlängelte sich nach oben, und meine Neugier trieb mich voran. Nach etwa einer halben Stunde erreichte ich den Gipfel. Dort erstreckte sich ein Meer aus wilden Blumen, und in der Mitte des Feldes stand ein gigantischer Kirschblütenbaum.
Ich setzte mich auf eine der Bänke am Rand des Blumenmeeres und ließ die Aussicht auf mich wirken. Der Wind spielte mit den Blütenblättern, die wie rosa Schneeflocken durch die Luft tanzten. Ich zog die Kapuze ab und ließ die Sonne mein Gesicht wärmen.
Die Zeit verging, ohne dass ich es bemerkte. Erst als eine kühle Abendbrise mich frösteln ließ, realisierte ich, wie spät es geworden war. Hastig machte ich mich auf den Weg zurück ins Dorf.
In Gedanken versunken bemerkte ich nicht, dass ich direkt auf jemanden zulief, bis ich plötzlich gegen eine breite Brust prallte. Der Aufprall ließ mich nach hinten stolpern, und ich entschuldigte mich hastig, ohne aufzusehen.
„A-Aniki... ich... ich wollte gerade nach Hause..." murmelte ich, als ich erkannte, wer vor mir stand.
Sanemi blickte mich mit seinem typischen grimmigen Gesichtsausdruck an. „Wirklich? Und was hast du dann hier draußen zu suchen? Was, wenn du dich verlaufen hättest, Lita?" Seine Stimme war streng, aber nicht ohne Sorge.
„Ich... ich wollte Ohagi machen! Hast du Hunger?" versuchte ich, ihn zu besänftigen, und setzte mein bestes Lächeln auf.
Bevor er etwas erwidern konnte, erklang eine sanfte, aber neugierige Stimme hinter ihm. „Shinazugawa, willst du uns nicht vorstellen?"
Genervt rollte Sanemi mit den Augen und trat widerwillig zur Seite. Hinter ihm standen vier Personen. Eine junge Frau mit einem Schmetterling im Haar trat vor und nahm meine Hand.
„Ich bin Shinobu Kocho. Sehr erfreut, dich kennenzulernen!" Sie lächelte warm.
„Das sind Obanai, Mitsuri und Tengen," fügte sie hinzu und zeigte auf die jeweiligen Personen.
„I-ich bin Lita Shinazugawa... s-sehr erfreut," stammelte ich, überrumpelt von der plötzlichen Aufmerksamkeit.
Mitsuri sprang begeistert auf mich zu und zog mich in eine schwungvolle Umarmung. Meine Kapuze rutschte dabei von meinem Kopf, und ihre Augen weiteten sich.
„Du bist ja wunderschön! Wie alt bist du? Hast du einen Freund? Du bist so süß!" sprudelte es aus ihr heraus.
Die anderen musterten mich neugierig, während ich mich hilfesuchend hinter Sanemi versteckte.
„Natürlich ist sie das!" rief Sanemi laut. „Schließlich ist sie meine Imōto, und ich bin ja auch gut aussehend!"
Bevor ich etwas erwidern konnte, ertönte eine weitere Stimme hinter mir.
„Na, was ist denn hier los? Ist das ein inoffizielles Säulentreffen?"
Langsam drehte ich mich um, und mein Blick fiel auf einen hochgewachsenen Mann mit feurigem Haar, dessen lebendige Strähnen in der untergehenden Sonne wie lodernde Flammen leuchteten. Sein breites Lächeln schien die Umgebung mit seiner Energie zu durchdringen, und seine Stimme war kräftig, fast wie ein Donnerschlag, als er sich vorstellte:
„Ich bin Kyōjurō Rengoku, die Flammen-Säule! Schön, die Schwester von Sanemi kennenzulernen!"
Die Leidenschaft in seinen Worten schien in die Luft überzugehen, und für einen Moment war es, als würde die Welt um uns herum stillstehen. Ich hielt unbewusst den Atem an, überwältigt von seiner Präsenz.
Dann trafen sich unsere Blicke. Seine goldenen Augen, die vor Lebhaftigkeit und Entschlossenheit sprühten, blieben an meinem Gesicht hängen. Sein Lächeln stockte nur für den Bruchteil einer Sekunde, so flüchtig, dass es kaum wahrnehmbar war – doch für mich fühlte es sich an, als hätte die Zeit kurz angehalten.
Er blinzelte, als würde er sich selbst daran erinnern, wo er war, und setzte sein strahlendes Lächeln nahtlos fort. „Wirklich wunderbar, dich zu treffen! Sanemi hat dich uns ja vorenthalten!" Seine Stimme war wieder so voller Leben, dass man kaum glauben konnte, dass er gerade für einen Moment innegehalten hatte.
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My only sunshine - My flame pillar (Deutsch)
RomantikSchüchternheit ist ein großes Problem für Lita. Wird Sie sich dieser entledigen und ihre liebe offen zeigen können? Kyojuro Rengoku x OC Folgt nicht dem Manga.